Cha-Cha-Cha

Heutzutage konnte man sich sogar ins Weltall schießen lassen, aber in Wien gab es noch immer Wohnhäuser ohne Aufzug.

Seit über dreißig Jahren hatte es Franz Enter nunmehr erfolgreich vermieden, eine Tanzschule zu betreten. Wozu denn auch? Ausgestattet mit zwei linken Füßen, Schweißhänden und jeder Menge Pickel nördlich des zu engen Hemdkragens, hatte er sich bereits in seinem achtzehnten Lebensjahr reihenweise mit der Ablehnung junger, mehr oder weniger hübscher Damen konfrontiert gesehen.

Traumatisiert brach er den Grundkurs damals kurzerhand ab und hakte ihn als gescheiterten Versuch eines ohnehin peinlichen Balzrituals ein für alle Mal ab. Selbst die längst von ihm geschiedene, angeblich bessere Hälfte konnte ihn später nicht dazu überreden, mit ihr übers Parkett zu schweben. Von wegen... Seine Talg- und Schweißdrüsen hatten die Produktion zwar schon einige Jahre vor der Eheschließung auf ein normales Niveau heruntergefahren, aber seine Beine waren noch immer dieselben. Nur eben älter. Abgesehen davon, hätte er sich die komplizierten Schrittkombinationen sowieso niemals merken können. Und das mit dem Taktgefühl war auch so eine Sache.

Also lehnte Franz Enter den Vorschlag der seinerzeit Holden ab, es beim Tag der offenen Tür doch wenigstens einmal zu versuchen. Nein, nein und nochmals nein, blieb er stur. Ihre Faszination fürs Tanzen erschloss sich ihm genauso wenig wie die für irgendeine andere sportliche Betätigung. Entsprechend vehement widersetzte er sich weiterhin dem Wusch seiner tanzwilligen Angetrauten, die sich ihrerseits schließlich einem Arbeitskollegen zuwandte, um doch noch das Tanzbein zu schwingen. Dass die beiden auch abseits des Parketts den rhythmischen Gleichklang suchten, bemerkte Enter erst, als er sie in flagranti erwischte.

Weniger die Erinnerung an den Ehebruch ließen das Herz des Kriminalinspektors bis zum Hals schlagen, als vielmehr die unzähligen Stufen, die er bis zur Tanzschule überwinden musste. Heutzutage konnte man sich sogar ins Weltall schießen lassen, aber in Wien gab es noch immer Wohnhäuser ohne Aufzug. Die hohe, weiß lackierte Flügeltür im dritten Altbaustock war angelehnt. Drinnen herrschte hörbar emsiges Treiben. Enter hielt inne und schnaufte ein paar Mal durch, ehe er die Tür aufstieß und das Vorzimmer betrat. „Ist da jemand?“, polterte er, nachdem niemand von ihm Notiz zu nehmen schien.

Die Kollegen der Tatortgruppe räumten gerade ihre Koffer ein. „Geh nur weiter in den Tanzsaal, Franz“, richtete einer der Forensiker das Wort an ihn und deutete zu einer Flügeltür, die offen stand.

„Wer ist die Tote?“, wandte sich der Inspektor an den Gerichtsmediziner. Der kniete neben der Leiche auf dem Parkettboden, um die Körpertemperatur zu messen, anhand derer sich der Zeitraum des Todes eingrenzen ließ. Sofern dieser nicht zu lange zurücklag.

„Eine der beiden Tanzschulbesitzerinnen“, antwortete die uniformierte Kollegin, die vor einer geschlossenen Tür am rechten Ende des Tanzsaals postiert war. „Ihr Name ist Maria Schütz. Sie kennen sie vielleicht eh.“ „Warum sollte ich?“, fragte Enter und trat näher an die Leiche heran. „Weil sie im Fernsehen getanzt hat. In dieser Tanzshow. Mit dem jungen Schauspieler, der diesen Geheimagenten spielt. Dieser Dings...Wie heißt er denn gleich nochmal?“ „Woher soll ich das wissen?“, blaffte Enter die Kollegin an. „Weder interessieren mich Tanzshows, noch dieser Schauspieler-Dings. Es sei denn, er hat die Frau hier getötet.“ „Kann schon sein. Er sitzt nebenan im Büro. Wie auch die Schwester der Toten.“ Die Polizistin deutete zur Tür hinter ihrem Rücken.

„Die Frau ist höchstens zwei, drei Stunden tot“, meldete sich der Gerichtsmediziner zu Wort. „Jemand hat ihr den Schädel zertrümmert. Mit einem spitzen Gegenstand. Die Tatortgruppe hat einige Pokale sichergestellt, die als Tatwaffe infrage kommen.“ Er deutete auf eine leere Nische in der Wand. Enter sah sich den Platz genauer an, ehe er im Nebenraum verschwand. Hinter dem Schreibtisch saß eine Dame, die der Toten ähnlich sah. Ihre blonden Haare waren ebenfalls streng nach hinten frisiert.

Auf der Couch lag ein junger Mann, den Enter noch nie gesehen hatte. Erfreut war er nicht, als der Inspektor sich nach seinem Namen erkundigte. Das konnte Enter ihm ansehen, während sich der Mann aufsetzte. Er gab an, die Leiche gefunden und die Polizei verständigt zu haben. „Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt“, fragte Enter die Schwester der Toten. „Ich hab den ganzen Vormittag hier im Büro Musik gehört, um neue Nummern für Showtänze auszusuchen.“ „Wann haben Sie Ihre Schwester zuletzt lebend gesehen?“ „Gestern Abend. Ich weiß nicht, wann sie heute in die Tanzschule gekommen ist. Ich hatte die ganze Zeit Kopfhörer auf.“ „Und Sie?“, sprach Enter den Mann an. „Gestern um halb sechs, nach dem Training. Heute hätten wir ab elf Uhr Cha-Cha-Cha proben sollen. Für die dritte Sendung am Küniglberg.“

Der Notruf war um 10.50 Uhr in der Zentrale eingegangen, wusste Enter. „Demnach muss vorher ein Fremder hier gewesen sein, der Ihre Schwester getötet hat.“ „Ja“, sagte die Frau. „Aber ich habe niemanden bemerkt. Die Kopfhörer lassen nichts durch und die Polsterung an der Bürotür schluckt zusätzlich Schall.“ „Hat außer Ihnen jemand einen Schlüssel?“ „Nur die Putzfrau. Aber die ist diese Woche bei ihren Eltern in Polen.“ Dann musste wohl das Opfer selbst dem Täter die Tür geöffnet haben. „Wann genau sind Sie heute gekommen?“ „Gegen drei viertel elf. Die Tür stand offen“, sagte der Schauspieler. „Geklingelt hat keiner“, bestätigte die Frau. „Haben Sie die Pokale im Tanzsaal jemals angefasst?“, wollte der Inspektor vom Promi-Tänzer wissen. „Nein.“

Enter glaubte ohnehin nicht, dass sich noch Fingerabdrücke auf der Mordwaffe befanden. Bestimmt waren diese längst abgewischt worden. Von einem der hier Anwesenden. Die steckten höchstwahrscheinlich unter einer Decke. Fragte sich nur, wer von den beiden zugeschlagen hatte.


Warum glaubt Franz Enter nicht an einen fremden Täter?

Die Autorin

Claudia Rossbacherhat in Städten von Teheran bis Osaka gelebt und als Model, Texterin und Kreativdirektorin gearbeitet, ehe sie sich dem Krimischreiben zuwandte. Ihr aktueller Roman „Steirerkreuz“ findet sich, wie schon die drei Vorgänger ihrer Alpenkrimi-Serie, in den österreichischen Bestsellerlisten.

Rafaela Pröll


www.krimiautoren.at


Lösung der vergangenen Woche:

Rita hat sich nicht dadurch verraten, dass sie weiß, dass das „Rudolf“ ein Stundenhotel ist – das ist in ihrer Branche wohl allseits bekannt. Allerdings bezeichnet sie Holger als „besoffenen Cowboy“. Doblhofer hat aber nur von einem Faschingskostüm gesprochen, nicht von einem Cowboykostüm.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.03.2014)

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