Hotelklau im Abendstau

"Wir haben keine Rundumüberwachung im Hotel, wo denken Sie hin? Gerade eine Kamera im Eingangsbereich..."

Telly Savalas, alias Kojak, hätte jetzt das Blaulicht mit dem Magneten auf das Dach geheftet und gehofft, dass sich das Blechmeer für ihn teilte wie einst das Rote für Moses, doch Martin konnte in der frühabendlichen Rushhour auf der Zweierlinie nicht einmal auf ein biblisches Wunder hoffen. Abermals läutete sein Handy. Verzerrt klang die Stimme seiner Auftraggeberin, Grete Schnaller, über die Lautsprecher des Autoradios. Martin entschuldigte sich für die Verzögerung und stoppte den Wagen abermals vor der Kolonne auf Höhe des Volkstheaters. In zehn Minuten sei er da, ließ er wissen, und das Knacken in der Leitung konnte als Bestätigung durchgehen.

Grete Schnaller war nicht nur ehemalige Erste Dame der Gesellschaft, sondern stand seit vielen Jahren einem der renommiertesten Hotels in der Innenstadt vor. Seit ihrer Hochzeit mit einem der bekanntesten und auch beliebtesten Mimen lebte sie nun weniger exponiert und hielt sich der breiten Öffentlichkeit eher fern.

Die Frau sah immer noch toll aus, dachte Martin, als sie ihn gut dreißig Minuten später in ihrem mit Biedermeiermöbeln ausgestatteten Büro empfing und ihm mit unverhaltener Verärgerung über die Verspätung seinen Auftrag erläuterte: „Sie haben Glück, dass ich mich zwischenzeitig nicht nach einem anderen Detektiv umgesehen habe. Zeit genug hätte ich gehabt. Jetzt aber nicht mehr, ich muss in zehn Minuten ein Bankett im Haus eröffnen. Daher zur Sache: Wie Sie vielleicht in der Zeitung gelesen haben werden, hat unlängst jemand frech mit einer Statue unter dem Arm das Haus verlassen.“ Martin begann es zu dämmern, er hatte in der Tat darüber gelesen. Er setzte ein Lächeln auf und begann zu sprechen: „Stimmt, da stand etwas davon...“

„Bitte keine Unterbrechungen, ich bin in Eile“, fiel ihm Schnaller ins Wort, „das ist aber noch längst nicht alles. Zwei Wochen danach entschwand wieder so eine Gestalt mit einem Orientteppich, der in einem Salon hing. Und letzte Woche war es ein kleiner venezianischer Spiegel, der die Wand zur Toilette säumte. Wenn das nicht aufhört, werden wir unseren Gästen bald nur mehr Interieur von Ikea bieten können. Haben Sie dazu nichts zu sagen?“ Martin war also nun die Redeerlaubnis erteilt worden. Er konnte sich an ein grobkörniges Bild des mutmaßlichen Täters in der Zeitung erinnern. Er fragte: „Haben Sie Bilder aus der Videoüberwachung?“ Schnaller schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Rundumüberwachung im Hotel, wo denken Sie hin? Gerade eine Kamera, die auf den Eingangsbereich gerichtet ist.“ Sie reichte Martin ein paar Abzüge, die immer einen von seiner Kleidung zum Teil verdeckten Mann zeigten, der von der Physiognomie ident sein konnte, auch wenn die Textilien variierten.

Wenig später war Martin in der Empfangshalle, wo der Portier angewiesen worden war, Martin auf Personen hinzuweisen, die nicht Gäste des Hauses waren. Es war ein Kommen und Gehen, und es war für Martin durchaus fordernd, sich die verschiedenen Gesichter einzuprägen, auf die der Livrierte ihn dezent hinwies. Zumeist kamen Pärchen, vor allem Touristen, die den Shop suchten, wo man die berühmte, hauseigene Torte in alle Welt verschickte. Er saß lesend, das Gesicht von einer Zeitung verdeckt, in einem Fauteuil, als ihn ein Zischen aus der Portierloge auf den Mann beim Ausgang aufmerksam machte. Dieser trug einen dunklen, bis oben zugeknöpften Trenchcoat und einen Hut, dessen Krempe tief ins Gesicht gezogen war. Die Hände ruhten auf dem Bauch. Martin sprang auf und eilte zu der Gestalt. „Entschuldigung, aber suchen Sie jemanden?“ Der Mann drehte sich verwundert zu Martin um und sagte: „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, aber ja, ich bin Impresario und wollte einen der Sänger aus der Oper hier treffen, aber offenbar hat er es nicht geschafft.“

Martin betrachtete die Menschen, die wartend ihre Zeit in der Lobby verbrachten, also warum sollte das nicht stimmen, dachte er sich und sagte beiläufig zum anderen. „Sie haben da etwas an der Schulter.“ Der Künstleragent drehte seinen Kopf zur Seite, holte ein Taschentuch hervor. Er wischte über die helle Stelle und strebte dem Ausgang zu. Das Reiben mit dem Taschentuch brachte wenig Erfolg. Martin ließ ihn ziehen. Es dauerte nicht lange, bis eine von einem Schal vermummte Frau das Gebäude betrat. Auch deren Mantel reichte fast bis zu den Knöcheln und war seltsamerweise an einigen Stellen ausgebeult. Sie strebte den in den oberen Stock führenden Stufen zu. Cherchez la femme, dachte Martin und heftete sich an ihre Fersen. Er holte sie bei der Stiege ein und fragte sie ebenfalls, ob sie etwas suche. Sie erschrak, als sie angesprochen wurde und hielt sich den Schal vor den Mund. „Ja, ich suche eine Gruppe Araber. Ich bin Fremdenführerin, aber vielleicht sind sie schon weg. Ich bin sowieso nicht unglücklich darüber, wenn ich mit meiner Verkühlung heute keine Führung machen muss.“

Sie blickte sich um, drehte sich dann zum Ausgang hin und sagte: „Es kann auch sein, dass die im Imperial warten.“ Und schon war auch sie entschwunden. Auf dem Boden lag ein Folder mit Sehenswürdigkeiten. Er musste ihr aus der Kleidung gerutscht sein. Martin bezog wieder Stellung. Eine Stunde später der nächste Verdächtige: ein bärtiger Mann in weitem Blouson mit ausgeleierten Taschen, auf dem Haupt eine Kappe, deren Schirm die Augen verdeckte. Martin erinnerte sich, dass der Täter seine Kleidung gewechselt hatte. Auch dieser Typ wanderte durch die Räume, bis ihn Martin ansprach.

„Wenn Sie mir sagen, wonach Sie suchen, kann ich Ihnen vielleicht helfen.“ Der Mann war sichtlich irritiert und stammelte dann gebrochen, dass er Taxifahrer sei, der einen Stammkunden fahren wollte. Und war auch gleich wieder weg. Martin wollte sich wieder auf seinen Posten begeben, da fing ihn die Chefin ab. „Na, Sie sind mir vielleicht ein Detektiv. Es ist schon wieder etwas verschwunden, wir haben es jetzt bemerkt: eine unserer Porzellanfigurinen. Die Maler haben heute den Raum neu ausgemalt und die Statue vom Podest nehmen müssen – und jetzt ist sie weg.“ „Keine Sorge“, versuchte sie Martin zu beruhigen, „der Täter wird wiederkommen, und jetzt weiß ich, auf wen ich warten muss.“

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Der Autor

Christian Klinger, geb. 1966 in Wien. Seit 2005 diverse Veröffentlichungen. Bisher drei Kriminalromane mit Chefinspektor Seidenbast; 2012 erschien der erste Roman mit dem Rätseldetektiv Marco Martin, „Winzertod“. Morgen, am 7.4., liest er im Café Museum am Karlsplatz aus seinem neuen Roman „Gleichenfeier“.

www.picco.at

www.krimiautoren.at


Lösung der vergangenen Woche:

Hans Bock muss der Täter sein. Er weiß nämlich, dass Manks Wagen durch einen Ziegelstein beschädigt worden ist, obwohl das Denk mit keinem Wort erwähnt hat und ihm durch die hohe Mauer der Blick auf das Nachbargrundstück verwehrt ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2014)

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