Doblhofer geht wählen

"Der ist das erste Jahr Wahlhelfer, vielleicht hat er sich bloß nominieren lassen, um mir was heimzuzahlen."

Oberinspektor Otto Doblhofer ging ungern wählen. Das lag nicht daran, dass er ein Demokratiemuffel war, aber jedes Mal, wenn er in die benachbarte Hauptschule (bzw. war es ja seit Kurzem eine Neue Mittelschule) wählen ging, begegnete er dabei Herrn Swoboda, und auf diese Begegnung konnte er gern verzichten. Er hatte Swoboda nämlich einige Male dienstlich kennengelernt. Doblhofer hatte bei den Swobodas einschreiten müssen, wenn dieser alkoholbedingt seine Frau wieder einmal verdroschen hatte. Schon mehrmals hatte er ihn aus der Wohnung gewiesen und ein Betretungsverbot ausgesprochen. Seit Kurzem waren die Swobodas allerdings geschieden.
Dass Doblhofer der Begegnung mit Swoboda im Wahllokal nicht entgehen konnte, lag daran, dass Swoboda seit vielen Jahren schon als Repräsentant einer Partei, die zu wählen für Doblhofer nicht infrage kam, in der Schulklasse saß, in der gewählt wurde – „Wahlhelfer“ nannte man diese Personen, soweit Doblhofer wusste. Und jedes Mal, wenn Doblhofer den Wahlraum betrat, konnte sich Swoboda den Aufruf „Ah, der Herr Inspektor macht auch sein Kreuzerl“ nicht verkneifen.

An diesem Morgen der EU-Wahl betrat zeitgleich mit Doblhofer und seiner Gattin ein Mann den Saal, der ein Tablett mit Getränken trug und auf dem Tisch vor Swoboda abstellte. Des Kriminalbeamten geschultem Blick entging nicht, dass auf dem Tablett einige Tassen Kaffee, zwei Gläser Cola und eine weitere Tasse, in der sich offenbar Tee befand, standen. „Wer hat das Cola bestellt?“, fragte er, und als zwei Personen mit Handzeichen auf sich aufmerksam machten, trug er die Gläser zu ihnen. Swoboda stellte die Tasse Tee vor sich ab, die Frau, die neben ihm saß, nahm sich eine Tasse Kaffee und gab Zucker hinein.

Etwa fünf Minuten später waren die Doblhofers mit dem Wählen fertig und auf dem Weg zum Ausgang, als sie auf eine Nachbarin trafen. Und wie es so ist, wenn Frau Doblhofer eine Nachbarin trifft, entspann sich zwischen den beiden Damen ein Gespräch, dem Herr Doblhofer nur mit einem halben Ohr lauschte. Seine anderen 1,5 Ohren wurden nämlich von lautem Wehklagen in Beschlag genommen, und als sich Doblhofer umdrehte, sah er gerade noch, wie Swoboda eilig auf der Toilette verschwand.
„Die Damen entschuldigen mich kurz, ich muss mir mal die Hände waschen“, sagte Doblhofer und ging auf die Toilette. Eindeutige Geräusche aus einer nur halb abgeschlossenen WC-Kabine drangen heraus, begleitet von unverständlichem Jammern.
„Lassen Sie immer die Tür halb offen stehen, wenn Sie sich aufs Klo setzen?“, fragte Doblhofer ein wenig spöttisch. „Fast hätt' ich's nicht mehr geschafft! Diese Scheißkerle!“ „Was meinen Sie damit?“ „Dass mir jemand ein Abführmittel in meinen Tee getan hat!“ „Aha. Und wie kommen Sie darauf?“ „Na, Sie sehen ja, wie rasch das ging. Und ich bin bei  einigen Leuten nicht gerade beliebt.“ „Tatsächlich? Haben Sie jemanden konkret in Verdacht?“ „Na, die Klose, die neben mir sitzt. Die kann mir das Abführmittel in den Tee gegeben haben, als ich gerade nicht hinsah. Oder der Bayer, der die Getränke serviert hat. Oder der Stumpfl, der sie in der Küche zubereitet hat.“ „Gratuliere, da fallen Ihnen ja gleich eine Menge Verdächtige ein“, sagte Doblhofer erfreut. Solche Fälle liebte er. Drei Verdächtige, von denen es einer dann war. „Und was hätten die für ein Motiv?“
„Na, die Klose, die hab ich neulich im Einkaufszentrum, wo sie Wahlwerbung gemacht und Kugelschreiber verteilt hat, ziemlich verarscht. Und der Bayer – der die Getränke serviert hat –, der ist der neue Lover von meiner Ex. Der ist das erste Jahr Wahlhelfer, vielleicht hat er sich eh bloß deshalb nominieren lassen, um eine Gelegenheit zu haben, mir was heimzuzahlen.“
„Verstehe. Wenn Ihre Ex ihm Szenen Ihrer Ehe erzählt hat . . . und der Stumpfl?“ „Ist mein Vorgänger in der Partei. Ich hab dafür gesorgt, dass er degradiert wurde. Muss jetzt Kaffee und Tee für uns kochen.“ „Und wie konnte er wissen, dass Sie den Tee bekommen?“ „Ach, dass ich als Einziger nur Pfefferminztee trinke, das wissen hier alle.“
Doblhofer ging auf den Gang zurück, und der Zufall wollte es, dass ihm Bayer über den Weg lief. Doblhofer erzählte ihm von Swobodas Unpässlichkeit. „Und darum hält er es für möglich, dass Sie ihm ein Abführmittel in sein Getränk gegeben haben.“

Bayer wurde vor Erregung rot im Gesicht. „Was erlaubt er sich! Aber so ist er nun einmal. Sabine hat mir Dinge von ihm erzählt! Aber ich wusste ja nicht einmal, was für ein Getränk für ihn bestimmt war! Ich hab das Tablett bloß aus der Küche geholt.“
Doblhofer sah in die Küche, wo ein älterer Mann, der wohl Stumpfl sein musste, gerade Apfelsaft in ein Glas leerte. Doblhofer sprach auch ihn auf seinen Groll Swoboda gegenüber an. Stumpfl konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „So, sitzt er auf dem Klo und plagt sich . . . geschieht ihm recht, diesem . . .“ Er ließ ein paar nicht druckreife Schimpfwörter folgen.
„Haben Sie gewusst, dass der Tee für ihn bestimmt war?“, fragte Doblhofer. Stumpfl nickte bedächtig. „Kann ich wohl nicht abstreiten. Er ist der Einzige von den Wahlhelfern, der Pfefferminztee trinkt. Als die Bestellung kam mit fünf Kaffee, zwei Cola und einem Pfefferminztee, war mir schon klar, für wen der Tee war. Aber glauben Sie mir, ich hab nichts hineingetan.“

Dasselbe behauptete auch Frau Klose. „Er glaubt, ich hab ihm ein Abführmittel in seinen Tee gegeben? Na ja, einen Grund dafür hätt ich wohl gehabt, nur – ich war's nicht. Wär mir doch viel zu gefährlich, vor all den Leuten ihm irgendein Pulver in den Tee zu streuen. Wenn mich da wer gesehen hätte! Aber wenn er den Rest des Tages auf dem Klo verbringt – ich vergönn's ihm.“ Doblhofer wollt“e sich soeben zurück zu den nach wie vor plaudernden Damen begeben, als ihm Bayer mit einem Tablett mit leeren Gläsern und Tassen auf dem Rückweg in die Küche entgegenkam. „Na, wissen Sie schon, wer ihm das Mittel in den Tee gegeben hat?“, fragte er.
Doblhofer blieb stehen und nickte. Ja, er glaubte es zu wissen.
Wen verdächtigt Doblhofer?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.05.2014)

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