Sammlerpech

Müde stellte Kriminalkommissar Beck seinen Wagen vor der Einfahrt der Villa ab und gähnte einmal herzhaft, ehe er ausstieg. Es war zwei Uhr morgens.

Normalerweise hätte er wegen eines Einbruchs um diese Zeit keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt. Aber als er erfuhr, bei wem der Einbruch stattgefunden hatte, ließ er es sich doch nicht nehmen, persönlich am Tatort vorbeizuschauen.
Vor dem Eingangstor hatten zwei Uniformierte Posten bezogen und salutierten.
Er erwiderte den Gruß und warf einen Blick auf das imposante Gebäude. Der Besitzer, Alfons Wegener, hatte sich vor wenigen Jahren im Ort niedergelassen und galt seither als der größte Wohltäter der Gegend. Es gab keine karitative Veranstaltung, auf der er nicht auf einen Sprung vorbeischaute, um die Spendenkasse zu füllen. Zwar ging seit geraumer Zeit das Gerücht, dass er im Zuge der Wirtschaftskrise einen siebenstelligen Eurobetrag mit Aktienhandel in den Sand gesetzt hatte und seinen Zahlungen nicht mehr Folge leisten konnte, aber solange er sein Scherflein zum Wohlergehen der Gemeinde beitrug, wurde darüber bestenfalls hinter vorgehaltener Hand geredet.
Der Hausherr öffnete ihm persönlich die Tür und führte ihn in das Wohnzimmer. Wegeners Frau saß auf der Couch und nickte ihm schläfrig zu.
„Mein Picasso ist weg", klagte Alfons Wegener und wies mit Hand auf die kahle Stelle an den Wand. Der Kommissar starrte eine Weile auf die leere Fläche, ehe sein Blick auf die Verandatür fiel. Die Scheibe war zersplittert, die Tür stand einen Spalt breit offen. Seit einiger Zeit trieben Einbrecher in der Gegend ihr Unwesen. Insgesamt hatten sie in den letzten Wochen fünfzehnmal zugeschlagen. Immer nach derselben Methode. Rollläden aufbrechen, Scheibe einschlagen, Tür entriegeln, Wohnung ausräumen und spurlos verschwinden. Allerdings entging ihm nicht, dass der Einbruch heute nach einem anderen Muster abgelaufen war. Bisher hatten die Täter stets in der Dämmerung agiert und waren in Häuser eingestiegen, deren Besitzer nicht zuhause gewesen waren. Das war bei den Wegeners nicht der Fall.
„Fehlt sonst noch etwas?", wandte er sich wieder an den Hausbesitzer.
Dieser schüttelte den Kopf.
„Dann waren das Profis, die es nur auf dieses Bild abgesehen hatten", stellte der Kommissar fest. „Wie viel ist das Gemälde denn wert?"
Herr Wegener zuckte mit den Achseln. „Die Versicherungssumme beläuft sich auf siebenhunderttausend Euro."
Der Kommissar stieß einen leisen Pfiff aus.
„Wenigstens sind Sie versichert, dadurch hält sich Ihr persönlicher Schaden einigermaßen in Grenzen."
Alfons Wegener schaute ihn betroffen an. „Wie können Sie so etwas sagen? Der Picasso ist unbezahlbar. Unter Liebhabern ist er gut und gern das Dreifache wert. Aber ich würde ihn nie verkaufen. Nicht für alles Geld der Welt. Sie versprechen mir doch, dass Sie ihn mir zurückbringen."
„Wir werden alles in unserer Macht Stehende unternehmen", versicherte er ihm. „Deshalb ist es wichtig, dass Sie mir genau erzählen, was vorgefallen ist. Wann haben Sie denn bemerkt, dass bei Ihnen eingebrochen worden ist?"
„Als der Alarm losging", erwiderte Herr Wegener. „Das war genau um ein Uhr zwölf."
„Alfons wollte sofort nachschauen gehen, was los ist", mischte sich zum ersten Mal Wegeners Frau ein. „Aber ich habe ihn zurückgehalten und gebeten, die Schlafzimmertür zu versperren, damit uns niemand etwas antun kann."
„Hätte ich doch nicht auf dich gehört", lamentierte ihr Mann, „dann..."
„Dann würden wir jetzt vielleicht nicht wegen Einbruchs, sondern wegen eines Gewaltverbrechens ermitteln", ergänzte der Kommissar. „Sie haben ganz richtig gehandelt. In solchen Situationen ist Heldentum fehl am Platz. Und was ist weiter geschehen?"
Ehe Wegener eine Antwort gab, warf er seiner Frau einen missbilligenden Blick zu.
„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht wirklich weiter helfen. Ich musste ja bis zum Eintreffen der Polizei im Schlafzimmer bleiben."
„Sie sollten Ihrer Frau dankbar sein", nahm der Kommissar Frau Wegener in Schutz.
„Ein Bild kann man ersetzen, ein Menschenleben nicht. Im Augenblick habe ich keine weiteren Fragen. Rühren Sie bitte nichts an, damit Sie nicht versehentlich Spuren verwischen. Ich werde mich jetzt noch ein wenig draußen umsehen."
Über die Küche gelangte er auf die Terrasse. Vor der Verandatür lag ein Ziegelstein auf dem Boden. Höchstwahrscheinlich hatten die Einbrecher damit die Scheibe zertrümmert. Mit ein wenig Glück würden sie Fingerabdrücke darauf sichern können. Aber wenn es wirklich Profis gewesen waren, und davon ging er aus, hatten sie sicher Handschuhe getragen. Er ging einen Schritt auf die Verandatür zu. Als er Glasscherben unter seinen Schuhen knirschen hörte, wich er sofort zurück. Bevor der Tatort nicht vollständig untersucht war, wollte er nicht durch eine Unachtsamkeit wichtige Spuren verändern. Er machte einen Bogen um die Stelle vor der Glasfront, die mit Scherben übersät war, und drehte sich Richtung Park. Er konnte sich gut vorstellen, wie die Einbrecher vorgegangen waren. Sie hatten vermutlich ihren Wagen am Ende des Anwesens abgestellt, waren über die Mauer geklettert und hatten sich über den ausgedehnten Rasen an das Gebäude herangeschlichen. Da das nächste Grundstück fast einen halben Kilometer entfernt lag und die Wegeners fest geschlafen hatten, hatte niemand die Bewegungsmelder wahrgenommen.
Seufzend warf er einen letzten Blick in die Dunkelheit, und plötzlich hellte sich seine Miene auf. Wie hatte er das nur übersehen können?
Die beiden Polizisten vor dem Haus schauten ihn ungläubig an, als er ihnen mitteilte, was sie zu tun hatten. „Ihr habt schon richtig gehört", wiederholte er seinen Auftrag, „Verhaftet die beiden Wegeners und durchsucht anschließend das Haus! Ich bin mir sicher, dass wir irgendwo den entwendeten Picasso finden werden."

Frage
Welche Entdeckung veranlasst Kriminalkommissar Beck zu der Annahme, dass Herr und Frau Wegener den Diebstahl nur vorgetäuscht haben?

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Der Autor

Ernst Schmid arbeitet in Oberösterreich als Hauptschullehrer, hat bereits zahlreiche Gedichtbände und Kriminalromane („Totschweigen", „Katzenblut") veröffentlicht und dafür mehrere Preise erhalten, darunter den Theodor-Körner-Förderpreis 1997. www.krimiautoren.at

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