Der liebsten Mutter der Welt

Eine Frau wird mit zwei Dutzend Einstichen im Rücken in ihrem Wohnzimmer aufgefunden. Ihre drei Söhne wissen von nichts...

Auf den ersten Blick deutete alles auf einen Raubmord hin. Die Scheibe der Terrassentür war eingeschlagen und das Wohnzimmer verwüstet. Doch als Denk die Leiche sah, kamen ihm sofort Zweifel. Die Vielzahl der Einstiche auf dem Rücken der Toten ließ eher auf eine Beziehungstat schließen. Wer so oft zustach, hegte einen tiefen Hass auf sein Opfer. Ein Einbrecher würde sich nicht zu einem derartigen Massaker hinreißen lassen.

Maier bestätigte seinen Verdacht. „Meiner Ansicht nach wurde der Einbruch vorgetäuscht, um von den wahren Beweggründen der Tat abzulenken.“ „Wie kommst du darauf?“ „Das Türschloss ist unversehrt. Entweder hatte der Täter einen Schlüssel, oder die Frau hat ihn selbst hereingelassen.“ „Und die Terrassentür?“ „Wurde von innen eingeschlagen, wie die Glassplitter auf der Terrasse beweisen.“ „Dem kann ich mich nur anschließen“, meinte der Gerichtsmediziner. „Der Leichnam weist mindestens zwei Dutzend Einstiche auf. Alle wurden von hinten ausgeführt. Das bedeutet, dass der Täter seinem Opfer nicht in die Augen schauen wollte. Übrigens ist der Tod vor ungefähr zwölf Stunden eingetreten.“

Also war die Frau zwischen 20 und 22 Uhr ermordet worden. Bei der Toten handelte es sich um die Industriellenwitwe Vera Hirt. Sie hatte sehr zurückgezogen gelebt und jedes Aufsehen in der Öffentlichkeit vermieden, was man von ihren Söhnen nicht behaupten konnte. Alle drei stammten von einem anderen Vater und waren einander spinnefeind, wenn man der Berichterstattung der Regenbogenpresse Glauben schenken konnte. Einer von ihnen, Ewald, hatte die Tote entdeckt. Er saß am anderen Ende der Wohnung in der Küche und verschmauste ein Stück der Muttertagstorte, die vor ihm auf dem Tisch stand. „Der liebsten Mutter der Welt“ war darauf zu lesen.

„Darf ich Ihnen auch ein Stück anbieten?“, fragte er. Denks Magen verkrampfte sich, weil ihm einfiel, dass er heute noch seiner Tante einen Besuch abstatten musste und diese ihn wieder nötigen würde, mindestens drei Schnitten Schokoladekuchen zu verzehren, den sie immer zum Muttertag buk. „Sie haben also Ihre Mutter gefunden?“ „Ja, das war gegen acht Uhr. Ich wollte ihr diese Torte zum Muttertag vorbeibringen. Als sie nicht geöffnet hat, habe ich selbst aufgesperrt und sie blutüberströmt auf dem Teppich liegen gesehen.“

Offensichtlich hielt sich seine Trauer in Grenzen, denn er schob sich ein weiteres Stück Torte genüsslich in den Mund. „Wissen Sie, wer sonst noch einen Schlüssel zur Wohnung Ihrer Mutter hat?“ „Meine beiden Halbbrüder. Warum fragen Sie?“ „Weil es den Anschein hat, dass der Einbruch nur vorgetäuscht wurde.“

Ewald Hirt schüttelte ungläubig den Kopf. „Was Sie nicht sagen! Dann möchte ich gleich etwas zu Protokoll geben. Falls Georg behauptet, dass er gestern Abend zu Hause war, entspricht das sicher nicht der Wahrheit.“ „Woher wissen Sie das?“ „Weil ich ihn aufgesucht habe, um endlich das Geld einzutreiben, das er mir schuldet, er jedoch außer Haus war. Seit Wochen lässt er sich verleugnen. Gestern ist mir schließlich der Kragen geplatzt und ich bin unangemeldet bei ihm aufgetaucht. Leider war der Vogel ausgeflogen.“

„Wann war das?“ „Das war kurz nach 20 Uhr. Daraufhin habe ich seine Lieblingslokale abgeklappert, ihn allerdings nicht gefunden. Gegen 21Uhr bin ich dann unverrichteter Dinge wieder nach Hause gegangen.“ Ein Polizeibeamter kam in die Küche und meldete, dass die anderen Brüder eben eingetroffen waren. Denk beauftragte ihn, dafür zu sorgen, dass die Männer für die Befragung in getrennten Räumen untergebracht wurden.

Als Nächsten knöpfte er sich Georg Hirt vor. „Wir gehen davon aus, dass Ihre Mutter den Täter gekannt hat. Wo waren Sie gestern zwischen 20 und 22 Uhr?“ „Wollen Sie damit andeuten, dass ich etwas mit dieser abscheulichen Tat zu tun habe?“, empörte er sich. „Hierbei handelt es sich lediglich um eine Routinefrage. Ihr Bruder hat ausgesagt, dass er zur fraglichen Zeit bei Ihnen war, Sie jedoch nicht zu Hause angetroffen hat.“ „Daher weht also der Wind. Dieser miese Dreckskerl will mir die Sache mit Mutter in die Schuhe schieben. Aber nicht mit mir! Ich habe nichts zu verbergen. Ich war gestern den ganzen Abend im Exxtrablatt.“

„Gibt es dafür Zeugen?“ „Jede Menge. Ich kenne genügend Leute, die meine Anwesenheit bestätigen können.“ Denk bat ihn, seinem Assistenten die Namen zu nennen. Allerdings war ihm klar, dass dieses Alibi nicht viel wert war. Das Exxtrablatt lag nur wenige Gehminuten vom Haus seiner Mutter entfernt. Es wäre sicher niemandem aufgefallen, wenn sich Georg Hirt für eine halbe Stunde entfernt hätte.

Denk betrat das Gästezimmer, in dem Jakob Hirt auf ihn wartete. „Furchtbar!“, jammerte dieser. „Wer tut so etwas?“ „Jemand, der Ihre Mutter sehr gehasst hat“, gab Denk zur Antwort. „Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter?“

Jakob Hirt zuckte mit den Achseln. „Ich würde sagen, normal, obwohl es nicht leicht mit ihr war. Sie hat uns, also ihren eigenen Söhnen, nicht über den Weg getraut. Sie war der Meinung, dass wir sie nur aufsuchen, weil wir hinter ihrem Geld her sind.“ „Darf ich erfahren, wo Sie gestern zwischen 20 und 22 Uhr waren?“

„Ist sie um diese Zeit umgebracht worden? Wie schrecklich! Sie steht Todesängste aus und ich amüsiere mich im Theater.“ „Sie waren also im Theater?“ „Genau. Ich habe mir ,Maos Fluch‘ angesehen. Ein furchtbares Stück. Zur Pause habe ich, wie übrigens der Großteil der Besucher, das Theater wieder verlassen.“ „Wann war das?“ „Kurz nach 21 Uhr war ich daheim. Ich habe noch ein wenig gelesen und bin dann ins Bett gegangen.“

Frustriert verließ Denk den Raum. Keiner der Brüder hatte ein richtiges Alibi. Ihm würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als die drei mit aufs Präsidium zu nehmen, um die Befragung dort fortzusetzen. So entging er wenigstens der Kalorienbombe seiner Tante. Oder doch nicht – denn plötzlich fiel ihm ein, dass sich der Täter längst verraten hatte.


Wen verdächtigt Denk?

Der Autor

Ernst Schmid
ist Hauptschullehrer in Linz und hat bereits zahlreiche Gedichtbände und Kriminalromane veröffentlicht, zuletzt „Das Himmelreich geht in die Luft“ (2014, Kehrwasser-Verlag).

krimiautoren.at

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Lösung der vergangenen Woche:

Der junge Mann behauptet, geschlafen zu haben, bis Enter an seiner Tür geläutet hat. Wie kann er dann eine Tasse Kaffee in der Hand halten, obwohl er doch allein lebt?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2015)

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