Steter Tropfen leert die Flasche

Martin passierte die Grenze zwischen unreflektierter Nahrungsaufnahme und exklusivem Geschmack, diese Schwelle, die das Buhlen um Kundschaft nicht durch günstigen Preis, sondern gerade eben durch das Gefühl, sich mit verschwenderischem Luxus zu krönen, für sich entschied.

Er begab sich in das Reich der duftenden und farblich genau abgestimmten Spezereien. Eine Delikatesshandlung in bester Innenstadtlage unweit des Stephansdoms. Martin studierte die Etiketten, die einen wahrhaft stolzen Preis für fernöstliche wie abseits der Saison liegender Leckerbissen verlangten. Auch die Klientel zählte, so wie seine, offenbar zu den betuchteren Mitbürgern der Stadt. Anwälte, Bankenchefs, schlicht die Society, also Geld-, wie echter Adel.
Ein Bursche hinter der Verkaufsbudel fragte nach seinem Begehr.
„Ich will den Chef sprechen, er hat mich angerufen."
Der Angestellte zuckte mit den Schultern und deutete auf einen Mann Mitte Fünfzig, auf dessen hoher Stirn sich die Deckenbeleuchtung spiegelte. Er schoss durch den Laden, verteilte Komplimente und bot seine Waren in bester Manier dar. Wenig später führte ihn Rühle Senior, der das Geschäft bereits in dritter Generation führte, in sein Büro und kam ohne Umschweife auf sein Anliegen zu sprechen: „Es ist eine Katastrophe. Frau Regierungsrat Bubleé hat bei mir eine Flasche Wein bestellt, für ihre Gäste und jemand hat die Flasche ausrinnen lassen. Helfen Sie mir."
„Aber wie kann ich Ihnen da helfen? Außerdem, eine Flasche Wein ..."
Rühle strafte ihn mit dem Blick, den man einem Unwissenden zuteil werden lässt.
„Das war ein Philippe de Rothbourg 1984", er betonte die Jahreszahl wie ein Bibelzitat, „Grand Reserve, umgekorkt haben wir ihn im Jahre 1999, so etwas bekommen sie nicht so leicht, noch dazu in der Doppelmagnum." Rühle seufzte. „Ach ist das peinlich. Sie hat sich mit mir noch die Flasche angesehen, dann war sie am Klo. Zwei Tage später habe ich das Malheur entdeckt."
„Haben Sie einen Verdacht?"
„Natürlich, der Enzo, also das war mein früherer Gehilfe, bevor ich ihn rausgeworfen habe. Jetzt klagt er mich beim Arbeitsgericht. Also, wenn Sie nachweisen könnten, dass er..."
„Ich kann die Wahrheit rausbekommen, wenn Sie das möchten." Martins Blick wurde streng.
„Ja, natürlich möchte ich das."
Martin ließ sich in den Keller führen. Es war ein Bild wie aus der Geisterbahn. Schummriges Licht, in allen Winkeln Spinnweben und reichlich Staub auf den alten Flaschen, die seit Jahren und Jahrzehnten für den betuchten Kunden bereit lagen. Rühle führte ihn in eine wahre Katakombe. Gewölbe an der Decke, niedrig, kühl, der Boden mit Lecasteinen ausgelegt. Wegen des Klimas.
Martin begutachtete die Flasche. Dann verlangte er nach dem Kork. Der war durchbohrt. Martin nahm ihn genauer in Augenschein. An der Innenseite war neben dem Loch eine kleine Einkerbung. Wie von einem Widerhaken.
„Sie sagten, hier gibt es eine Toilette?" Die Feuchtigkeit drückte auf seine Blase.
„Ja, gleich den Gang rechts."
Ein Knirschen am Boden begleitete das Plätschern seines Harnstrahls. Interessant, hier waren auch einige Tonkügelchen.
Martin nahm die Untersuchung auf. Seine Berufserfahrung hatte ihn gelehrt, dass man zunächst das Umfeld des Opfers untersuchen muss. Und tatsächlich, die Frau Regierungsrat war den Geschäftsleuten in der näheren Umgebung ein Begriff. Guter Geschmack in Personalunion mit schlechter Zahlungsmoral. Man munkelte, dass die Dame nach ihrer Blitzscheidung vom Herrn Regierungsrat finanziell ausgehungert war. Er fuhr zu ihrem Haus am Wilhelminenberg. Frau Bubleé öffnete ihm persönlich. Martin stellte sich vor und überbrachte ihr die Nachricht, dass die bestellte Flasche bedauerlicher Weise nicht mehr verfügbar wäre.
„Das ist eine Katastrophe. Ich habe übermorgen Gäste. Anspruchsvolle Gäste. Was soll ich denen nun kredenzen?"
„Aber da findet sich sicher passender Ersatz. Übrigens vielleicht findet der sich noch schneller, wenn sie Herrn Rühle die offene Rechnung bezahlen."
Nervös holte sie Häkelzeug hervor und begann mit der Handarbeit. Das beruhige sie, erklärte sie Martin. Seit ihrer Scheidung habe sie bereits ein kleines Textillager gehäkelt. Sogar unterwegs tue sie das. Sie habe immer ein Paar in der Tasche.
„Sie glauben doch nicht, dass ich ihm nach dieser Malaise noch etwas bezahle? Verklagen werde ich ihn, jawohl."
Armer Rühle. Alle Welt zerrte ihn vor den Kadi!

Anschließend besuchte er den ehemaligen Kaufmannsgehilfen Enzo. Der empfing ihn widerwillig, sprach dann aber frei von der Leber weg. „Sie kommen also vom Alten, weil der glaubt, ich hab ihn sabotiert. Grundlos rausgeworfen hat er mich, weil ich die Bezahlung der Überstunden nach Geschäftsschluss verlangt habe, und jetzt muss er zahlen."
Martin nickte, er betrachtete den Burschen mit dem lausbübischen Lächeln. „Sie haben da etwas an den Schuhen", bemerkte er. Enzo wischte sich den rötlichen Staub von der Schuhspitze.
„Ich helfe am Tennisplatz aus. Vor irgendwas muss ich ja leben."
„Das kann man überprüfen, Sie sind ja sicher angemeldet?"
„Aber gengan S‘, des sind ja nur Gefälligkeiten, außerdem wär's ja schad‘, wegen der Kündigungsentschädigung."
Wieso Arbeitnehmer in Österreich sich nichts um Pflichten pfiffen, aber um ihre Rechte bestens Bescheid wussten? Martin lenkte das Gespräch auf die von Enzo bearbeitete Bestellung der Frau Regierungsrat.
„Naja, des Tröpferl hat sie mit dem Chef ausgesucht. Teuer musste es sein. Und das bei der ihre Schulden. Ich hab damit aber wirklich nichts zum Tun, glauben S‘ mir das. Was hätt‘ denn ich davon? Sie war jedenfalls sehr lange da, war mit dem Chef im Keller. Ich hab dann den Chef holen müssen, wegen einer Kundschaft. Und dann is‘ gangen. Hat sich wie immer höflich für die Beratung bedankt."
Martin klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.
Er sagte:„Nein, Sie haben damit wirklich nichts zu tun."

Was hat Frau Regierungsrat Bubleé verraten?

>>Zur Lösung

Der Autor:

Christian Klinger, seit jeher der Musik zugewandt, betätigt sich neben seinem erlernten Beruf als Jurist immer wieder als Bassist. Nach der Auflösung seiner Band 2001 wechselte er das Metier und tauscht Basssaiten gegen Buchseiten. Aktuell: „Codewort Odysseus" (Resistenz 2011)

www.krimiautoren.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2011)

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