Was uns zu Massenmördern machen kann

Charles Whitman
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Genforschung und Psychobiologie bringen uns den Ursachen von Gewalt näher. Das wäre auch bei der Befassung mit den Bostoner Bombenlegern ratsam, meinen mehrere US-Psychologen im Gespräch mit der „Presse“.

Nachdem er seine Mutter und seine Ehefrau erstochen hatte, kritzelte Charles Whitman in den frühen Morgenstunden des 1. August 1966 folgende letztwillige Verfügung auf ein Blatt Papier: „Wenn meine Lebensversicherung gültig ist, zahlt bitte meine Schulden und spendet den Rest anonym an eine Stiftung für psychische Krankheiten. Vielleicht kann die Forschung künftige Tragödien dieser Art verhindern.“ Dann fuhr der 25-jährige frühere Soldat zum Campus der University of Texas in Austin, stieg auf deren Uhrturm und erschoss von dort aus 17 Frauen und Männer.

Wie ist so etwas möglich? Der tödliche Bostoner Bombenanschlag vom 15. April wirft dieselben Fragen auf, die seit Whitmans Uhrturm-Massaker bei jedem Mehrfachmord gestellt werden.
Die Antworten darauf, wie man zum Massenmörder wird, fallen dank rasanter Fortschritte in der Psychobiologie, der Genetik und der Neurologie immer genauer aus. Sie nähern sich den genetischen und neurologischen Ursprüngen für Gewalt. „Das Soziale und das Biologische verschwören sich miteinander, um Menschen zur Gewalt zu treiben“, erklärt Adrian Raine, Professor für Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie an der University of Pennsylvania.

Fehler im Kopf des Attentäters


Raine ist einer der weltweit führenden Experten in der Erforschung der biologischen Ursachen von gewalttätigem Verhalten. Der Zufall will es, dass sein neues Buch „The Anatomy of Violence“ (Pantheon Books, New York) nur drei Wochen nach dem Bostoner Anschlag erscheint. Was also fällt ihm an den Fallstudien der beiden Brüder Tamerlan und Dzohar Tsarnaev auf, die mit zwei Bomben drei Menschen getötet und mehr als 200 verletzt hatten, bevor sie auf der Flucht einen Polizisten erschossen?
„Würde ich das Gehirn von Dzohar scannen, wäre meine Vermutung, dass er eine Fehlfunktion im Amygdala hat“, sagt Raine. Das sei natürlich nur eine hypothetische Überlegung, denn Ferndiagnosen verbieten sich seriöserweise.

Doch die Erforschung des menschlichen Gehirns und seiner Steuerung unseres Verhaltens zeigt immer klarere Zusammenhänge zwischen Schädigungen bestimmter Teile des Gehirns und gewalttätigem Verhalten. Die Amygdalae, mandelgroß und paarweise in der Mitte des Gehirns gelegen, ist der nervliche Sitz unserer Emotionen. Studien belegen, dass dieser Gehirnteil bei Menschen mit besonders klaren psychopathischen Merkmalen während wichtiger moralischer Entscheidungen nur schwach aktiv ist. Anders gesagt: Psychopathen sind in moralischen Zwangslagen besonders cool. Und sie tun sich schwer, bei anderen Menschen Zeichen der Angst zu erkennen: Auch diese soziale Funktion des Amygdala ist bei ihnen gestört.
Der getötete ältere Bruder Tamerlan wiederum war Boxer. Raine hält es für möglich, dass er an einem Hirnfehler namens Cavum septi pellucidi litt. Vereinfacht gesagt ist das ein Spalt in der Gehirnmasse, der sich normalerweise spätestens sechs Monate nach der Geburt schließt. Tut er das nicht, sorgt er für emotionale Fehlentwicklungen; solche Menschen sind in oft bedenklichem Maße furchtloser, risikofreudiger und angriffslustiger. Bei Psychopathen findet sich dieser Spalt im Kopf oft, bei Boxern auch – und weil er nicht durch die Schläge auf den Kopf entsteht, sondern von klein auf vorhanden ist, spricht man davon, dass diese Menschen „zum Boxen geboren“ seien.

Gehirnschäden können also aus normalen Menschen Mörder machen. Charles Whitman ist dafür ein gutes Beispiel: Er klagte vor seiner Tat monatelang über schwere Kopfschmerzen. Bei der Autopsie fand man in seinem Gehirn einen nussgroßen Tumor.
Doch auch in unserem Erbgut kann die Saat des Bösen keimen, sagt William Bernet, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Ein Gen namens MAO-A steuert die Herstellung wichtiger nervlicher Botenstoffe wie Serotonin. Dieser Neurotransmitter hemmt unsere Aggressionen. Seit Jahren ist bekannt, dass psychopathische Gewalttäter besonders häufig eine Mutation des MAO-A-Gens haben, die ihren Serotonin-Spiegel drastisch senkt.

Zornige junge Männer


Signifikant wirkt sich diese Genmutation bei Menschen aus, die als Kinder „nur“ mittelschwer misshandelt wurden, führt Bernet aus: „Drei Prozent aller Männer haben diese Kombination, aber jeder fünfte Gewaltverbrecher.“ Das galt auch für den Mehrfachmörder Bradley Waldroup: Bernet bewahrte ihn als Sachverständiger auf Basis einer Genanalyse vor der Todesstrafe.

Der Psychotherapeut und gerichtliche Sachverständige Stephen A. Diamond aus Los Angeles hingegen lehnt die rein biologische Deutung von Massengewalt scharf ab: „Wir versuchen, diese Formen bösen Verhaltens auf eine Weise zu verstehen, die uns von den Tätern distanziert, indem wir sagen: Die sind halt neurologisch krankhaft. Wir wollen nicht wahrhaben, dass das Böse ein Teil der menschlichen Natur ist. Dass wir unter bestimmten Bedingungen auch so ein böser Mensch werden könnten.“
Auch Diamond macht sich über die Beweggründe der Tsarnaev-Brüder Gedanken. „Wenn ich mir den älteren Bruder Tamerlan anschaue, frage ich mich: Was machte ihn so zornig? Sein Vater vielleicht? In der Psychoanalyse zeigt sich, dass oftmals staatliche Autoritäten als Ersatz für den Vater herhalten, um Ärger loszuwerden.“

Diamond hält das Phänomen des zornigen jungen Manns, der sich an der Welt rächt, für ein Problem der Betreuung psychisch Kranker. „Es geht aber nicht darum, diese Leute einfach auf Psychopharmaka zu setzen. Die sind sich selber oft nicht bewusst, wie zornig sie sind. Und selbst wenn sie sich dessen bewusst sind, können sie mit niemandem darüber reden. Und dann nimmt es sie völlig in Besitz.“

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