Wie man die Welt zerredet

Mann vor Berglandschaft
Mann vor Berglandschaft(c) BilderBox
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Vielleicht ist die mündliche Mitarbeit schuld: Schon die Schule erzieht uns zum ständigen Reden, und spätestens seit Twitter haben wir gelernt, uns in Sekunden eine Meinung zu bilden.

Am Eingang unserer Schule, man bezeichnete ihn in diesem alten Gebäude als Pforte, ordinierte eine fast ebenso alte Frau als Krankenschwester für äußerliche und manch innerliche Verwundungen, mit denen pubertierende Buben zu ihr kamen. Sie hatte kaum Medikamente, nur ein paar Hausmittelchen – und eine immer angewandte Therapie: still auf einem Diwan liegen. Einfach einmal nichts reden. Ich lag dort manchmal. Als Pförtnerin, die sie in Personalunion war, schien ihr ein solch gemeinsames Schweigen auch selbst ganz recht gewesen zu sein. Sie hieß Lotte Watzlawick und war verwandt mit einem großen Philosophen. Darauf war man an unserer Schule sehr stolz.

Generationen von Schülern (-innen wurden erst Jahre nach mir aufgenommen) sind daher nicht umhingekommen, sich mit dem Satz „Man kann nicht nicht kommunizieren“ auseinanderzusetzen. Der stammt von Paul Watzlawick. Ich war fasziniert von dieser Einsicht. Deutsch- und Englischprofessoren, Philosophie- und Psychologieprofessoren ließen uns darüber seitenweise Arbeiten schreiben. Ich wollte ihn in der Praxis anwenden – und stellte daraufhin meine mündliche Mitarbeit ein. Das war ein Fehler.

Schweiger mag man nicht. Denn mündliche Mitarbeit machte zu einem prozentuell genau festgelegten Teil die Note aus. Groß genug, dass er mich selbst in Fächern, die mir lagen, an den Rand des Abgrunds brachte. Obwohl es seither kaum nennenswerte Schulreformen gegeben hat, dürfte der prozentuelle Anteil an der Zeugnisnote (vielleicht inflationsangepasst) gestiegen sein. Das sehe ich bei meinen Töchtern. Manchmal habe ich den Eindruck, sie hätten den Stoff doch gar nicht verstanden – können das aber in der Schule offenbar sehr gut erklären. Sie merken schon: Ich halte die mündliche Mitarbeit für überschätzt. Sie erzieht uns zu großen Zerquatschern der Welt. Aber die Österreicherinnen und Österreicher mögen keine Schweiger. Schon gar nicht in der Politik. Auch wir vom Fernsehen nicht. Schweigen bringt keinen Sager. Schüssel, der „Schweigekanzler“, ist uns noch gut in Erinnerung. Heute können viele schon ein wenig nachvollziehen, dass das meiste, was wir gern kommentiert gehabt hätten, keines Kommentars wert war. Das gegenwärtige Regierungsduo wandelt gerade auf den Spuren seiner Kommunikationsstrategie. Ich glaube aber nicht, dass wir das in naher Zukunft einmal gut finden werden.

Obwohl, wir haben im Fernsehen auch einmal Schweigen gesendet. Das geht. Bundespräsident Thomas Klestil versammelte angesichts von Nine Eleven das Personal seiner Kanzlei zu einer Schweigeminute. Wir sind mit der Kamera noch gerade rechtzeitig gekommen und haben dieses Statement ungekürzt auf Sendung gebracht. Das ist natürlich die Ausnahme. Aber es war ja Krieg. Der Krieg erinnert mich an einen Schweiger, der den Österreicherinnen und Österreichern wohl das Schweigen verdorben hat: Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke. Er war der erfolgreiche Gegenspieler von Kaiserin Maria Theresia (der wir vielleicht mit der Schulpflicht auch die mündliche Mitarbeit zu verdanken haben) im Preußisch-Österreichischen Krieg. Über von Moltke erzählte uns unser Geschichteprofessor (der uns mit Watzlawick völlig unbehelligt ließ), dass dieser „der große Schweiger“ genannt wurde. Bei einer stundenlangen Lagebesprechung im Kreise seiner Offiziere sagte er nichts außer die Worte „getrennt marschieren, vereint schlagen“. Trotzdem konnte er gegen die Österreicher gewinnen. Die paar Worte reichten für einen Sieg. Oder ins Nichtmilitärische übersetzt: für den Erfolg seiner Unternehmung. Das kränkt. Für einen Menschen in dem in dieser Hinsicht auch heute noch barocken Österreich ist das daher schlichtweg unsympathisch. Dem fehlt es wohl an einer ausführlichen Evaluierung, der Einsetzung einer Expertengruppe, einer Taskforce vielleicht – und eben an der mündlichen Mitarbeit vieler, die auch noch etwas dazu wissen.


Die Instantmeinung. Verstehen Sie mein Beispiel bitte nicht falsch. Ich mag das Militär gar nicht so gern. Ich war Zivildiener und froh, anstatt Befehlen folgen zu müssen, die Dinge dort ausführlich diskutieren zu können. Aber ich habe ein Bitte-Herr-Fessor-ich-weiß-auch-etwas-Trauma. Dass mir das seit Schulzeiten nachhängt, weiß ich leider erst, seit ich Twitter verfolge. Sonst hätte ich mich schon früher darum gekümmert.

Früher war es deshalb nicht möglich, weil ich erst vor einigen Monaten von zwei meiner Kolleginnen darauf hingewiesen wurde, dass ich als „Moderator der wichtigsten Nachrichtensendung“ (das meinten die beiden natürlich nicht ernst, denn sie arbeiten für eine spätere Sendung) nicht nicht auf Twitter sein könne. Schon bei dieser doppelten Verneinung war ich an Watzlawick erinnert und ahnte, was auf mich zukommen würde: viele Menschen, die nicht nicht kommunizieren können.

Seither lese ich Meinungen von Menschen, die ich bisher gar nicht kannte und nach wie vor nicht kennenlernen möchte; von Menschen, deren Meinung mir eigentlich nie wichtig war; Meinungen, von denen ich bisher nicht gewusst habe, dass man sie sich bilden kann; Meinungen zu Meinungen, die sich andere gerade gebildet haben; Meinungen, die nur im Affekt gebildet worden sein können (und daher einem Milderungsgrund unterliegen). Meinungen, die – Milderungsgrund hin oder her – sehr kränkend sind und nicht einfach abperlen, auch wenn sie wohl gedankenlos hingeschrieben worden sind.

Ein früherer Kollege war zuletzt solchen Affektmeinungen stark ausgesetzt. Das berührte mich natürlich mehr als manch andere Meinungen. Denn er hatte bis zuletzt den gleichen Job wie ich. Erst waren viele der Meinung, er sei ungerechterweise zu früh aus dem Job verabschiedet worden. Binnen kürzester Zeit schlug die Meinung um. Die neue Meinung wollte ihn nunmehr auch aus seinem neuen Job gleich wieder verabschiedet sehen.

Weil ich schon dabei war, mich zu verzetteln, und von vielen Tweets auf die Blogs und Facebook-Einträge der Protagonisten geleitet wurde, begann ich nun auch wieder die Postings auf den News-Seiten intensiver zu lesen. Das hatte ich mir schon vor Jahren abgewöhnt. Aber ich fühle mich gezwungen, der Entwicklung einer Attitüde vorzubeugen, wie sie ein früherer ORF-Programmdirektor entwickelt hat. Die hat bekanntlich im Sch. ..-Internet geendet. Auch will ich mich nicht zu sehr auf Zeitungsberichte verlassen, die Facebook attestieren, in drei Jahren bist du tot. Und mich auch nicht bestätigt fühlen, wenn eine renommierte Kolumnistin einer österreichischen Tageszeitung Twitter wegen zu viel Testosterons dort verlässt.

Und dann gibt es ja noch die ganz herkömmlichen Kommentierungen von allem und jedem, die mein persönliches Tagesgeschäft ausmachen: reflexartige Reaktionen auf öffentliche Äußerungen der Politik. Ich denke, ich könnte mehr als 80 Prozent aller Presseaussendungen (oder sonst wie gemachten Äußerungen) selbst schreiben. Auch meine Kolleginnen und Kollegen haben diese Fähigkeit.

Nur Splitter und kein Ganzes. Es ist natürlich legitim, sich binnen Sekunden zu allem eine Meinung zu bilden. Und ich würde die Kraft dafür aufwenden, wenn ich den Eindruck gewinnen könnte, das treibe zumindest den gesellschaftlichen Diskurs weiter. Aber die vielen Tweets und anonymen Postings, die mir meist schon den Frühstückskaffee verderben, befördern doch nicht die öffentliche Debatte. Im Gegenteil: Viele Äußerungen zerstören sie. Und da scheue ich nicht einmal davor zurück, den guten alten Fränk (sinngemäß) zu zitieren: Das ist alles so negativ! Für eine gute Pointe einen guten Freund verlieren, das kann ich ja noch verstehen. Aber gleich die öffentliche Debatte umbringen? Warum das in dieser Welt vielfach so ist, hat eine Kollegin vom „Falter“ in ihrem jüngst erschienenen Buch „Der unsichtbare Mensch“ analysiert (siehe unten stehendes Gespräch). Ich ermüde zunehmend, in diesem Meer von Gedankensplittern zu schwimmen. Sie lassen das Wichtige, das die Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen vorantreibt, untergehen. Dazu tragen leider auch viele bei, die ohnedies Meinungsbildner in diesem Land sind – und einen Gedankenbogen artikulieren könnten, der nicht wegen technischer Beschränkungen plötzlich abbricht (hoffentlich wenigstens auf seinem Höhepunkt).

Aber dazu braucht es manchmal das Wagnis, einfach zu schweigen. Das ist seit Kurzem, meine ich, übrigens nicht mehr eine andere Art und Weise, doch etwas zu sagen. Man kann heute tatsächlich nicht kommunizieren. Punkt. Da hat sich Paul Watzlawick einfach geirrt. Aber er konnte ja auch noch nicht wissen, wie viel wir einst zu sagen und meinen haben.

Jetzt könnte man (vielleicht in Erinnerung an eine Deutschstunde) mit Charlotte aus Goethes „Wahlverwandtschaften“ sagen: Aber manchmal ist es doch „notwendig und freundlich, lieber nichts zu schreiben, als nicht zu schreiben“. Nein, lieber Leserinnen und Leser. Ich hätte in dieser „Presse am Sonntag“ wirklich gern nicht geschrieben. Nicht aus Faulheit, sondern als Statement. Aber ich wette, Sie hätten das niemals so interpretiert.

zur person

Tarek Leitner ist Moderator der Nachrichtensendung „Zeit im Bild“, zuvor war er viele Jahre Innenpolitikredakteur. Der studierte Jurist befasste sich zuletzt auch mit der Verschandelung Österreichs in seinem Buch „Mut zur Schönheit“ – und mit der Frage, warum wir uns im Namen der Wirtschaftlichkeit so viel Hässliches gefallen lassen.
ORF

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2014)

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