1876: „Gestern hatten wir die Götterdämmerung“

Wagners „Ring“ uraufgeführt. Mit der nunmehr vollständigen Ausführung des Bayreuther Programms ist aus der Musik der Zukunft eine Musik der Gegenwart geworden. Äußerlich wenigstens und für den Augenblick.

[20. August 1876] Auf kunstgeschichtliche Weissagungen lässt sich der Kritiker ebenso ungern ein wie ernsthafte Astronomen auf das Wetterprophezeien; so viel jedoch hat uns jetzt die größte Wahrscheinlichkeit: dass der Stil von Wagners „Nibelungen“ nicht die Musik der Zukunft sein wird, sondern höchstens eine von vielen.
Um gleich eines zur vorläufigen Orientierung des Lesers hervorzuheben: Wir hören durch vier Abende auf der Bühne singen, ohne selbstständige, ausgeprägte Melodie, ohne ein einziges Duett, Terzett, Ensemble, ohne Chöre oder Finale! Dies allein beweist schon, dass hier das Messer nicht an überlebten Formen, sondern an die lebendige Wurzel der dramatischen Musik gelegt ist. Man kann den „Tannhäuser“ für eine der schönsten Opern und trotzdem die „Nibelungen“ für das gerade Gegenteil halten, ja, eigentlich muss man es dann.

Alles Fassliche getilgt


Denn was das Glück von Wagners frühen Opern machte und zu machen noch fortfährt, ist die stete des Verbindung schildernden, spezifisch dramatischen Elements mit dem Reiz der fasslichen Melodie, die Abwechslung des Dialogs mit musikalisch gedachten und geformten Ensembles, Chören, Finalen. Alles, was an diese Vorzüge mahnt, hat Wagner in den „Nibelungen“ bis auf die Spur getilgt. Drei Hauptpunkte sind es, welche diese Musik von allen bisherigen Opern, auch von Wagner'schen, prinzipiell unterscheiden. Erstens: das Fehlen der selbstständigen, abgeschlossenen Gesangsmelodien, an deren Stelle eine Art von Rezitation tritt, mit der unendlichen Melodie im Orchester als Basis. Zweitens: die Auflösung jeglicher Form, nicht bloß der herkömmlichen Formen (Arie, Duett etc.), sondern der Symmetrie, der nach Gesetzen sich entwickelnden musikalischen Logik überhaupt. Endlich drittens: die Ausschließung der mehrstimmigen Gesangsstücke, der Duette, Terzette, Chöre, Finale, bis auf einige verschwindend kleine Ansätze. Das unnatürliche Singsprechen oder Sprechsingen der Wagner'schen „Nibelungen“ ersetzt uns weder das gesprochene Wort des Dramas noch das gesungene der Oper. Ersteres schon darum nicht, weil man bei den meisten Sängern den Text gar nicht versteht, und selbst bei den besten nur stellenweise. Da aber der szenischen Wirkung wegen der Zuschauerraum des Festspielhauses gänzlich verfinstert wird, so entfällt jede Möglichkeit, im Textbuche während der Vorstellung nachzusehen.

Ratlosigkeit und Langeweile


Wir sitzen daher ratlos und gelangweilt diesen unendlich langen Dialogen der Sänger gegenüber, gleichzeitig dürstend nach der deutlichen Rede, wie nach der allzeit verständlichen Melodie. Und was für ein Dialog! Niemals haben Menschen so miteinander gesprochen (wahrscheinlich auch Götter nicht). Hin- und herspringend in entlegenen Intervallen, immer langsam, pathetisch, übertrieben, und im Grunde einer genau wie der andere. [. . .] Nachdem im „Musikdrama“ die handelnden Personen nicht durch den Charakter ihrer Gesangsmelodien unterschieden werden, wie in der alten „Oper“, sondern in dem physiognomischen Pathos ihres Sprechtons einander sämtlich gleichen, so trachtet Wagner diese Charakteristik durch sogenannte Erinnerungs- oder Leitmotive im Orchester zu ersetzen. Leicht behält man die paar melodisch und rhythmisch prägnanten Leitmotive des „Tannhäuser“ oder „Lohengrin“. Aber wie gebart Wagner damit in den „Nibelungen“? Darauf antwortet uns eine hier überall zum Verkauf ausgebotene Broschüre von H. v. Wolzogen: „Thematischer Leitfaden“, ein musikalischer Baedeker, ohne welchen kein anständiger Tourist auszugehen wagt. Nicht weniger als neunzig Stück Leitmotive führt Herr v. Wolzogen mit Namen und Noten auf, welche der geplagte Festspielbesucher sich einprägen und in dem Tongedränge von vier Abenden überall herauskennen soll. [. . .]
Diese mystisch-allegorische Tendenz in Wagners „Nibelungenring“ erinnert vielfach an den zweiten Teil des Goethe'schen „Faust“, welcher ja gerade dadurch an seiner poetischen Wirkung einbüßt, weil der Dichter viel „hineingeheimnist“ hat, was nun als Rätsel den Leser quält.

Ein „Angriff auf die Empfindung“


An vielen Stellen tauchen allerdings musikalische Schönheiten von hinreißender Wirkung auf, Starkes wie Zartes – es ist, als ob sich da der neue Wagner an den alten erinnerte. [. . .] Erscheint gar nach zweistündiger monodischer Steppe ein Stückchen mehrstimmigen Gesanges, geht es wie ein freudiger Erlösungsschauer nach langer Gefangenschaft über die Mienen der Hörer. Das sind sehr beachtenswerte Symptome. Sie geben lautes Zeugnis, dass die musikalische Natur im Menschen sich auf die Länge nicht verleugnen, nicht knebeln lässt, dass die neue Methode Wagners nicht eine Reform überlebter Traditionen, sondern ein Angriff auf die uns eingeborene und durch jahrhundertelange Erziehung ausgebildete musikalische Empfindung ist . . .

Eduard Hanslick (1825–1904) war von 1853 bis 1864 Musikkritiker der „Presse“, danach bis zu seinem Tod bei der „Neuen Freien Presse“.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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Hanslicks Erben haben anderes zu tun als der Allvater aller Rezensenten. Sah er noch in der Beleuchtung des zeitgenössischen Musikschaffens seine Hauptaufgabe, gilt die Betrachtung heutzutage nur noch musealer Reproduktion.

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