2010: Helmut Qualtinger - Der Sultan von Grinzing

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Freundschaft. Gedanken zu Helmut Qualtinger, der Nachkriegsösterreich mit seinem „Herrn Karl“ einen unverzerrten Spiegel vorhielt.

[14. März 2010] Es gab und gibt in Österreich als Variation der Infamie auch die Vernichtung des übergroßen Gegners durch Umarmung, durch das Locken in die Verbrüderungsfalle. Dort zieht man ihn, häufig in jahrelanger Kleinarbeit und durch klettenhafte Anhänglichkeit, auf das eigene bescheidene Niveau und überlässt ihn dann Melancholien und Verdüsterungen, wie sie jedes Genie heimsuchen, das nicht sorgfältig genug wehrhaft mit sich selbst umgeht.

Das Opfer kann in diesem Zustand zuletzt nur noch zwischen Irrenhaus, Talentverlust und einer Säuferleber wählen. Helmut Qualtinger entschied sich für Letzteres. Der schlanke Mann mit dem großen Bauch war vor allem was die Juden „a Mensch“ nennen. (Nur wenige sind dieses Ehrentitels würdig, denn er bedeutet zumindest: mutig, humorvoll, mitfühlend und hilfsbereit.)

Das Nächsterstaunliche an ihm war seine Kunst der Erscheinung. Wenn er den Raum betrat, entstand eine selige Spannung, als musizierten die Philharmoniker unter Carlos Kleiber. Die Sprache war ihm mit gutem Grund hörig, denn in beinahe jedem wachen Augenblick formte er aus ihr funkelnde Stegreifgeschichten und elektrisierende Märchen wie kein Zweiter. Qualtinger besaß eine aus der Mode gekommene Universalbildung, war Untiefenpsychologe, ein Held des Aberwitzes und im Einklang mit seinem beinah vergessenen Schriftstellerkompagnon Carl Merz. Thomas Bernhard, Peter Turrini, Elfriede Jelinek, Gerhard Roth und Peter Handke, um nur einige zu nennen, sind bewusst oder halb bewusst Absolventen von Qualtingers Schule der genauen Wahrnehmung.

Keine Ironie ohne Selbstironie

Der „Herr Karl“ diente den Bürgern des wiedererstandenen Österreichs als jener unverzerrte Spiegel, der in der sterbenden Monarchie und in der Zwischenkriegszeit „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus war. Aber Qualtinger ist Kraus, als dessen bedeutendsten Interpreten man ihn bezeichnen muss, insofern überlegen, als er sich niemals so wichtig nahm, dass er keine Zeit finden konnte, es tatsächlich zu sein, und dass ihm Ironie ohne Selbstironie unmöglich erschien. Karl Kraus suchte mit der Ruhelosigkeit eines Süchtigen das Misslungene, das Gemeine, das Bigotte, das Hohle als Lebensgrundlage seiner Empörung und als Aphrodisiakum seiner Hasserektionen. Qualtinger aber war von Berufung ein unbestechlicher Liebender und Ermutiger, und er wusste, dass uns Großmütter auch noch für Sinnvolleres gegeben sind, als sie für die erst- oder zweitbeste Pointe zu verkaufen.

Wir haben einander zwischen 1966 und 1973 hunderte Male zu Expeditionen in den wienerischen Kontinent getroffen. Manchmal auch in der Toskana oder in Zürich und Hamburg. Als ich 1970 vier Monate lang mit einer schweren Gelbsucht im Rudolfinerspital um meine Gesundheit kämpfte, besuchte er mich beinahe jeden Nachmittag und las mir Horváth und Heinrich Mann, Feuchtwanger oder Italo Svevo vor. Er fragte auch oft: „Von wem willst du besucht werden?“

Und wenn ich etwa Oskar Werner erbat, verließ er das Krankenzimmer, klopfte Augenblicke später an die Türe und kehrte als Oskar Werner zurück. Perfekt in Stimme und Bewegung. Einmal erkundigten sich auf diese Weise innerhalb einer Stunde Salvador Dalí, Charlie Chaplin, Josefine Mutzenbacher und Bundespräsident Adolf Schärf nach meinem Befinden. Wenn sein Übermut unausgelastet war, stürmte er z. B. in Schwesterntracht die im gleichen Stockwerk gelegene Rekonvaleszentensuite des Kronprinzen von Saudiarabien, um Seiner Hoheit ernsthaft mitzuteilen, man habe soeben in dero Harn Öl gefunden.
Ich habe von Qualtinger vieles und Merkwürdiges gelernt. Unter anderem, dass man Schnaps erst nach der sogenannten Grundübung beurteilen kann; d. h. man schüttet einen Tropfen davon zwischen Daumen und Zeigefinger und zählt langsam bis zwanzig. Wenn die Spirituose bis dahin kein Loch in die Haut gebrannt hat, kann man getrost von ihr trinken. Aber auch, dass der wahre Snob in Italien nur bei bewölktem Himmel Käse isst, und dass der Käse wenn möglich genau die Farbe der vorherrschenden Wolken haben sollte.

„An allem ist Sobieski schuld“

Unter den ernsteren Ratschlägen war jener, stets gleich nach dem Aufwachen all seinen klugen Feinden ein langes Leben zu wünschen, weil sie uns durch ihr Lauern auf unsere Fehler schärfen und auf der Hut sein lassen vor Schlampereien und Größenwahn. Einmal, in dem inzwischen demolierten Restaurant „Zum grünen Anker“, schrie er unvermittelt auf: „An allem Unglück ist der Polenkönig Sobieski schuld. Wenn der Wien mit seinem Entsatzheer nicht vor den Türken gerettet hätte, wär' ich heute Sultan von Grinzing und du Sultan von Hietzing, und wir müssten nicht, um zu überleben, vor Unwürdigen für Geld auftreten wie die Tanzbären im Zirkus.“

Da wurde etwas von den Verzweiflungen deutlich, die ihm sein Alltag vor lachwütigem Publikum bereitete. Und immerhin war er ja auch der einzige Mensch im amtlichen Telefonbuch, bei dem schon der Familienname mit dem Wort „Qual“ begann. Ob es einen Gott gibt, hat er damals für sich noch nicht entschieden. Aber sicherheitshalber sang er ihm manchmal Wienerlieder vor. Ab 1974 verlor sich langsam unsere Freundschaft. Ohne auffälligen Grund. Vielleicht, weil ich stets das Theaterstück einmahnte, das er sich seit Langem selbst versprochen hatte. Vielleicht, weil ich seine heldenhafte Frau Leomare nicht aufhörte zu mögen, nachdem er eine andere, ebenso heldenhafte, liebte. Vielleicht, weil ich die Kameraderien nicht ertragen konnte, die sich mediokre Saufkumpane ihm gegenüber anmaßten.

Wenige Wochen vor seinem Tod begegnete ich Qualtinger und dem Dichter Erich Fried zufällig bei strömendem Regen in der Wiener Krugerstraße, wo Prostituierte in Haustoren frierend auf Kunden hofften. „Bei so einem Wetter möcht' ich keine Hur' sein“, sagte ich. Helmut antwortete: „Bei welchem Wetter möchtest du's?“

André Heller, geboren 1947, schrieb diesen Text 2010 als Gast-Chefredakteur für die Jubiläumsausgabe der „Presse am Sonntag“.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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Über Qualtinger konnte kaum einer schreiben, ohne Spott des Porträtierten fürchten zu müssen.

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