Syrien: "Bei Gruppen wie IS geht man nicht zum Chef"

Syrische Flüchtlingskinder
Syrische Flüchtlingskinder (c) REUTERS (MOHAMED AZAKIR)
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Wer humanitäre Hilfe leisten will, muss auch mit Terroristen sprechen. Experte Hansjörg Strohmeyer über Kontakte zu Mittelsmännern.

Die Presse: Ist humanitäre Hilfe innerhalb Syriens überhaupt noch möglich?
Hansjörg Strohmeyer: Die Frontverläufe ändern sich ständig. Es gibt Gebiete, wo man zeitweise nicht hinkommt, weil zum Beispiel Kämpfe stattfinden. Und es gibt Gebiete, zu denen man fast gar keinen offiziellen Zugang hat, nur über einige informelle Kanäle. Die Lage ist unglaublich dramatisch. Zwei Drittel der Bevölkerung sind direkt von Kampfhandlungen in Mitleidenschaft gezogen. Entweder sind die Menschen schon vertrieben oder in Gebieten, aus denen sie nicht weg kommen. Der Flüchtlingsstrom wird nicht abreißen. Und selbst, wenn es eine politische Lösung gibt, wird der Wiederaufbau viele Jahre brauchen. Syrien kann für die nächsten zehn, 15 Jahre ein Ausgangspunkt von Fluchtbewegungen sein. In diesem Land gibt es wahrscheinlich für eine gefühlte Generation kaum eine Zukunft.

Wie genau erreicht man denn die Menschen, die noch in Syrien sind?
Das Büro für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) arbeitet eng mit den anderen UN-Organisationen zusammen, auch mit NGOs und lokalen Organisationen wie dem syrischen Roten Halbmond, die in vielen Fällen ganz wichtige, heldenhafte Arbeit leisten. Wir schauen: Wer kann wo etwas machen?

Teile des Landes und auch im Irak werden von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrolliert. Verhandeln Sie mit denen?
Bei solchen Gruppen geht man nicht zum Chef. Viele dieser Gruppen sind sehr heterogen. Da gibt es lokale Kommandeure und Milizen, mit denen man dann vorsichtig versucht, Kontakt oder Absprachen herzustellen; manchmal auch nicht direkt, sondern über Mittelswege. Das ist eine ganz delikate Angelegenheit. Das sind Leute, die bestimmte Gebiete kontrollieren, die man einfach durchqueren muss. Daran entscheidet sich, ob man humanitäre Hilfe leisten kann oder nicht. Manchmal hat man auch keine Kontakte und keine Möglichkeiten; dann erhalten die Leute am anderen Ende keine humanitäre Hilfe und leiden Not. Das kommt nicht nur im IS-Gebiet vor, sondern auch in Regierungs- und anderen Gebieten.

Wird so eine Blockade von humanitärer Hilfe dann bewusst betrieben?
Das ist gang und gäbe. Der Zugang wird blockiert, die humanitären Konvois werden beschossen, Notarztwagen behindert, Medikamententransporte nicht auf die andere Seite gelassen. Leid zuzufügen, indem man humanitäre Hilfe verhindert, gehört durchaus zum Repertoire der Kriegsparteien. Das ist eine Kriegstaktik. Und es hat natürlich Auswirkungen auf die Sicherheit der Helfer.

Gerade extremistische Gruppen wie der IS anerkennen doch humanitäre Helfer nicht als unparteiisch und unangreifbar.
Umso wichtiger ist es, auf lokaler Ebene Kanäle und eine Verlässlichkeit aufzubauen – damit man über Sicherheitsfragen sprechen und sich auf Zusagen verlassen kann. So etwas muss manchmal über Monate oder gar Jahre vorbereitet werden, bis man jemanden findet, mit dem man reden kann, der dann mit jemandem anderem reden kann, der Einfluss hat. Das ist sehr kompliziert – und hat natürlich insgesamt einen negativen Einfluss auf das Volumen, das man an humanitärer Hilfe leisten kann.

Inwiefern?
Weil man in kleineren Abschnitten und mit kleineren Konvois fahren muss. Die Vorbereitung jedes Konvois dauert unglaublich lange. Man kann nicht – nur weil der Sicherheitsrat beschlossen hat, dass man da jetzt über die Grenze gehen soll – einfach sagen: super, jetzt schicken wir jeden Tag einen Riesenkonvoi. Jede dieser Fahrten muss mit jeder der Parteien besprochen werden. Das ist ein Prozess, der mal vier Wochen dauert, mal sechs Wochen und manchmal Monate. Jeder Konvoi, jedes Auto, jede Hilfslieferung muss neu besprochen werden. Die humanitären Prinzipien von Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität sind sehr wichtig – aber in der Praxis ist das ein delikates Kleinklein, das mit unglaublichem Kraftaufwand und Risiko verbunden ist.

Es gibt heute so viele Krisen wie kaum jemals zuvor. Sie dauern immer länger. Wie muss sich die humanitäre Hilfe auf die veränderte Situation einstellen?
Wir haben ein Level von humanitärer Hilfe, das wir noch nie gesehen haben. Es sind um die 100 Millionen Menschen, die wir heute versorgen in den verschiedensten Teilen der Welt. Vor zehn Jahren waren es 38 Millionen. Jedes Jahr machen wir einen humanitären Appell (über den Bedarf an humanitärer Hilfe, Anm.). Vor zehn Jahren haben wir dreieinhalb bis vier Milliarden US-Dollar angesetzt. Heute sind das über 20 Milliarden US-Dollar. Beispiel Binnenflüchtlinge: Die durchschnittliche Zeit des Vertriebenseins beträgt etwa 17 Jahre. Je länger dieser Status dauert, desto mehr gewöhnt man sich an das Leben woanders. Die Kinder werden dort geboren, wachsen dort auf. Das heißt, da finden auch soziale Veränderungen statt.

Was heißt das für die Flüchtlingskrise in Europa?
Das ist eine Angelegenheit, auf die man sich langfristig einstellen muss. Humanitäre Hilfe ist heute in vielen Gebieten für fünf, zehn, 15 Jahre jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr notwendig. Dazu gibt es oft keine Alternative.

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