Thilo Sarrazin: "Auswanderung ist keine Lösung"

Thilo Sarrazin
Thilo Sarrazin(c) Katharina Roßboth
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Ex-SPD-Politiker und Autor Thilo Sarrazin über die Flüchtlingskrise, Auswege aus der asylpolitischen "Sackgasse" und ein Eingreifen in Syrien.

Die Presse: Das Europäische Forum steht unter dem Titel Ungleichheit. Was verbinden Sie damit?
Thilo Sarrazin: Zum Thema Gleichheit müssen wir Tatsachen und Normen unterscheiden: Jeder Mensch ist ein Individuum, dessen angeborene Eigenschaften sich von denen aller anderen Menschen unterscheiden. Nur eineiige Zwillinge sind genetisch identisch. Diese angeborene Ungleichheit ist die Basis aller Ausdifferenzierung und der natürlichen Evolution. Normativ beruht unsere gesellschaftliche Ordnung darauf, dass wir allen Menschen den gleichen Wert zusprechen und sie als Staatsbürger mit denselben bürgerlichen Rechten ausstatten.

Aber angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise wirken manche gleicher als andere.
Historisch gesehen, haben sich die Menschen in Stämmen, Völkern, Staaten und Nationen organisiert. Der Gleichheitsgedanke bezieht sich zunächst immer auf den eigenen Verband. Es wäre ja auch absurd, wenn sieben Milliarden Menschen (und in einigen Jahrzehnten elf Milliarden) die österreichischen Bürgerrechte in Österreich wahrnehmen könnten, wo acht Millionen Menschen leben.

Viele Politiker sahen zuletzt gerade in der Solidarität den Ausweg aus der asylpolitischen „Sackgasse“.
Wir brauchen ein einheitliches europäisches Asylrecht, das auch in ganz Europa einheitlich angewendet wird. Die Verteilung der Asylbewerber muss dann strikt nach den Bevölkerungsanteilen der Mitgliedstaaten erfolgen. Die Leistungen an Asylbewerber müssen so ausgestaltet sein, dass jeder Anreiz entfällt, aus wirtschaftlichen Gründen um Asyl nachzusuchen. Auch muss die Berechtigung zum Asyl wesentlich enger gefasst werden. Nach den gegenwärtigen Standards haben etwa 80Prozent der auf der Erde lebenden Menschen dem Grunde nach ein Asylrecht in Deutschland oder Österreich. Das ist absurd.

Ist „Grenzen hoch“ nicht zu kurzfristig gedacht?
Die wirksame Sicherung der Außengrenzen gegen unerwünschte Einwanderung, aus welchen Gründen auch immer, ist die Basis jeder Staatlichkeit. Das gilt auch für den Schengen-Raum insgesamt.

Und der nächste Schritt ist dann ein militärisches Eingreifen wie einst in Libyen?
Ich kenne keine einzige militärische Intervention der Nato, der USA oder einzelner europäischer Staaten außerhalb Europas seit 1945, die nicht mehr Unheil mit sich gebracht hat, als sie Segen gestiftet hat. Das gilt für Vietnam, den Irak, Somalia, Afghanistan und zuletzt Libyen. Die innere Ordnung eines Staates muss zunächst im Land selbst gefunden und notfalls erkämpft werden.

Der Europa-Direktor des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, Vincent Cochetel, forderte im Juli, Wirtschaftsflüchtlinge abzuschieben.
Dass Wirtschaftsflüchtlinge konsequent abgeschoben werden sollten, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Probleme liegen in der Unterscheidung der verschiedenen Kategorien von Flüchtlingen und im Vollzug. Im Übrigen bin ich grundsätzlich der Meinung, dass Kriegsflüchtlinge immer im Land selbst und dessen unmittelbarer Nachbarschaft untergebracht werden sollten. Die Weiterleitung von Kriegsflüchtlingen aus dem Nahen Osten nach Europa halte ich für eine grundsätzliche Fehlentwicklung. Schon gar nicht darf der Zustrom von Flüchtlingen mit der Einwanderungsfrage vermischt werden.

Das klingt nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen in der EU.
In welchem Maß wir Europa für die Einwanderung aus anderen Ländern und Kulturen öffnen wollen, ist eine elementar politische Entscheidung. Die üblicherweise angeführten wirtschaftlichen und humanitären Gründe für Einwanderung nach Europa halten einer näheren Überprüfung nicht stand. Jedes Land auf der Welt ist grundsätzlich in der Lage, aus eigener Kraft denselben Wohlstand, dieselben politischen Freiheiten und dieselbe soziale Sicherheit zu entwickeln wie die rohstoffarmen Länder Europas. An den internen Gründen, die das behindern, müssen Politik, Gesellschaft und jeder einzelne Bürger vor Ort ansetzen. Auswanderung ist keine Lösung, auch die Entwicklungshilfe hat zumindest in Afrika in der Summe mehr geschadet als genutzt.

Betrachten Sie Menschen als Stückgut?
Wenn Sie an der Grenze zu einem fremden Staat stehen und diese nicht überschreiten dürfen, verstößt das in keiner Weise gegen Ihre Menschenwürde. Wenn die Grenze wirksam gesichert ist und der Umstand, dass sie nicht einreisen können, rechtzeitig kommuniziert wurde, werden Sie sich gar nicht erst auf den Weg machen. Die Durchlässigkeit der Grenzen rund um den Schengen-Raum und der Zusammenbruch des europäischen Grenzregimes haben die Flüchtlingsströme erst angelockt, die wir jetzt beklagen. Eine wirksame Schließung der Grenzen für unerwünschte Einwanderung würde dazu führen, dass die Menschen ihre Kraft in die Verbesserung der heimischen Verhältnisse stecken, anstatt ihr Glück in der Auswanderung zu suchen. Dem Wohl der Menschen in Afrika und im Nahen Osten ist so langfristig am besten gedient.

Würden Sie Flüchtlinge bei sich aufnehmen?
Mein Haus betreten Menschen, die mir nahestehen. Wie viele Flüchtlinge aus Afrika hat denn der Chef der österreichischen Caritas in seiner privaten Wohnung untergebracht? Und wie viele Flüchtlinge aus Syrien residieren in der Dienstwohnung des Papstes?

Derzeit wird über „Scheinasylanten“ geklagt, die angeblich die „Festung Europa stürmen“. Das klingt nach „Asylkrieg“. Sind die Europäer fremdenfeindlicher, als sie zugeben?
Die meisten Menschen fühlen sich unter ihresgleichen am wohlsten. Sie hängen an ihrer kulturellen und ethnischen Identität und fühlen sich durch Fremdartiges bedroht, wenn dieses ein gewisses Maß überschreitet. Daran ist nichts Schlimmes. Es ist vielmehr ein elementarer Ausdruck menschlicher Natur. Andere Völker und Kulturen sind da nicht anders. Vielen Idealisten in Europa täte es gut, wenn sie die Nachrichten zu ethnischer und religiöser Gewalt anderswo in der Welt aufmerksamer studierten anstatt ihren spezifisch abendländischen Schuldkomplex zu kultivieren.

Verfolgen Sie Österreichs Vorgehen in der Asylfrage?
Ich beobachte dieselben Probleme und eine ähnliche Hilflosigkeit wie in Deutschland.

Ungarn-Krise, Prager Frühling, Jugoslawien-Kriege: Damals nahm Österreich je über 100.000 Flüchtlinge auf. Heute sind die Zahlen kleiner, der Aufschrei ist lauter. Woran liegt das?
Sie können doch selbst vergleichen, wie sich die Ungarn, Tschechen, Slowenen und Kroaten einerseits und die Albaner, Türken, Araber und Eritreer andererseits in Österreich integriert haben. Integration findet umso besser statt, je kulturell ähnlicher die Menschen sind.

>>> Caritas-Präsident Michael Landau kontert Sarrazin

STIMMEN ZU ASYL

Im Rahmen der Politischen Gespräche in Alpbach sammelt „Die Presse“ Stellungnahmen verschiedenster Personen zum Thema Flüchtlinge und Asyl. Neben dem deutschen Autor Thilo Sarrazin kommen in dieser Ausgabe der lettische Außenminister, Edgars Rinkēvičs, und der Chef des EU-Militärstabes, Wolfgang Wosolsobe, zu Wort.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.09.2015)

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