„Wir haben Jahrzehnte verschlafen“

Beate  Winkler
Beate Winkler (c) Katharina Roßboth
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Die globalen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen scheinen derzeit Überhand zu nehmen. Beate Winkler hat sich überlegt, wie daraus auch Positives wachsen kann: mit Mut, Visionen und konkretem Handeln.

Flüchtlingsdrama, Terrorismus, Extremismus, Konfliktherde von der Ukraine bis Nahost, Klimawandel, Rechtspopulismus, Wirtschaftskrise – weltweit überschlagen sich die Krisen, die Ratlosigkeit ist groß. Beate Winkler kennt sich mit Krisen aus – immerhin hat die Juristin 30 Jahre lang im Bereich Migration/Menschenrechte gearbeitet, unter anderem war sie lange die Direktorin der EU-Agentur, die heute die Grundrechtsagentur FRA ist. Sie will angesichts all der aktuellen, lange anhaltenden Krisen nicht in Ratlosigkeit erstarren und erinnert in ihrem Buch „Unsere Chance. Mit Handeln und Visionen in der Krise“ an die Krise als Wendepunkt, als Chance. Am Montag hat sie ihr jüngstes Werk gemeinsam mit Erhard Busek in Alpbach vorgestellt.

„Was sind das für Arten von Krisen? Es sind tiefe Identitäts- und Existenzkrisen. Wir sind auf dem Scheideweg?“, sagt Winkler. Und will, statt von Horrorszenarien zu reden vor allem Lösungsansätze entwickeln – und zum Handeln motivieren. „Die aktuelle Situation darf uns nicht paralysieren, wir müssen ins Handeln kommen“, sagt sie, schließlich herrsche schon viel zu lange Stillstand, auch in ihrem Fachgebiet Migration. „Wir haben seit 25 Jahren ein extremes Defizit im Handeln, wir haben Jahrzehnte verschlafen.“

Ohne Visionen bleibt nur Stillstand

Das Problem sei, dass stets analysiert und konzipiert werde, aber dann viel zu wenig Energie in die Umsetzung fließe. „Uns fehlen die Visionen. Ohne positive Bilder von der Zukunft zu haben, herrscht Stillstand. Die Menschen wollen keine Veränderung.“ Dabei ortet sie in manchen Bereichen einen Wandel, der schon begonnen hat: Die aktuellen Flüchtlingsdramen etwa sind eine Chance für ein Umdenken, für eine Wertediskussion, eine stärkere Bürgergesellschaft und mehr zivilgesellschaftliches Engagement. Eine Chance für ein Umdenken – statt Angst vor Zuwanderung sich etwa auf die sozialen und kulturellen Interessen und Vorteile, die Migration bringt, zu besinnen. Sie erinnert etwa an Studien, denen zufolge Gesellschaften erfolgreich sind, die „drei Ts“ fördern: Talente, Technologie, Toleranz.

„Wenn es um Zuwanderung und Integration geht, könnten wir auf viel Erfahrung zurückgreifen“, sagt Winkler. Sie befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Migration – auch aufgrund ihrer eigenen Fluchterfahrung als Achtjährige aus der damaligen DDR nach Westdeutschland. „Ich habe damals erlebt, was es heißt, ausgegrenzt und teilweise verachtet zu werden – das prägt“, sagt sie. Vor 24 Jahren hat sie zu dem Thema bereits den Bestseller „Zukunftsangst Einwanderung“ geschrieben. Ein Buch, wie Busek sagt, das aktueller sei denn je. Wurde seither genug getan, um dieser Angst zu begegnen? „Diese Angst wurde herausbürokratisiert. Mit den Dublin-Verordnungen wurde das Problem an den Rand Europas gedrängt. Die Zahlen an Asylwerbern in Mitteleuropa sind zeitweise gesunken, aber nichts desto trotz hat sich das Problem verschärft. Wir haben lange versäumt zu Handeln.“

Was also tun, was ist Winklers Lösungsansatz? Es gehe zunächst um Bildung. „Wir müssen in Bildungseinrichtungen neue Kompetenzen vermitteln: Wie gehe ich mit Gefühlen um? Mit Angst, Empathie? Wir wissen heute, wie wir zum Mond fliegen, aber lernen nicht, mit Ängsten umzugehen – und diese Ängste werden von Populisten und Terroristen instrumentalisiert.“ Auch gehe es um den Umgang mit Medien, mit Gewalt, die schon Kindern auf allen Kanälen begegnet. Und, man müsse Jugendlichen Perspektiven zeigen: Statt der Frage, wie man am schnellsten Karriere macht, sollten Jugendliche darüber nachdenken, wie ein erfülltes und sinnvolles Leben für jeden Einzelnen ausschauen kann.

Vom glücklichen Sisyphos

Die Juristin, Autorin und Malerin spricht auch das Wertebewusstsein – und einen Wertewandel – als Chance an: Respekt, Würde, Empathie und Anerkennung bräuchten wieder Bedeutung, statt sich etwa im TV im Beschämen und Bloßstellen von Menschen zu verlieren. Das muss auch im Rahmen eines öffentlichen Diskurses stattfinden, der mehr Qualität brauche – und in dem etwa verschiedene Organisationen und Sprecher, die mit einer Botschaft sprechen, enorm viel bewirken können – und stellt einige Initiativen vor, denen das bereits gelungen ist.

Nicht zuletzt braucht das alles viel Ausdauer, Veränderung passiert schleichend, ebenso langwierig sind Krisen zu lösen. „Wie müssen vielleicht anfangen, uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorzustellen.“

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