Gemütlichkeit auf der Erde endet bereits in 500 Millionen Jahren

Den „Geist von Alpbach“ mache der offene Austausch mit Forumsteilnehmern verschiedener Disziplinen aus, so Schroeder.
Den „Geist von Alpbach“ mache der offene Austausch mit Forumsteilnehmern verschiedener Disziplinen aus, so Schroeder.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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„Aufklärung 2.0“ ist das heurige Motto der Gespräche. Renée Schroeder setzt sich in ihrem neuen Buch damit auseinander: Wie wir die „Evolution überlisten“ – und welche Verantwortung daraus erwächst.

Was ist Leben? „Der Aufbau und Erhalt von Ordnung“, würde ein Physiker sagen. „Das Schnauben eines Büffels im Winter“, würde der Poet sagen. „Oder: das Leuchten eines Glühwürmchens in der Nacht“, sagt Renée Schroeder, „das ist nämlich die Energieumwandlung, die das Leuchten ausmacht.“ Die Biochemikerin spricht mit der „Presse“, als sie gerade den Seminarraum verlassen. Eröffnet wurde das Europäische Forum Alpbach vergangenen Mittwoch. In der Woche, die den Gesprächsreihen vorangeht, erörtert Schroeder gemeinsam mit Kolleginnen und Stipendiaten die Frage, ob der Mensch sich nicht vielleicht längst von der „natürlichen Evolution“ emanzipiert hat und gerade Schöpfer dessen wird, was als „synthetische Evolution“ bezeichnet werden kann. Zum Einstieg diskutierten die Teilnehmer verschiedener Disziplinen den Begriff Leben. Es ist dieses Forum, der offene Austausch, „der den Geist von Alpbach ausmacht“, wie Schroeder sagt.

Die Evolution ist auch das Thema von Schroeders neuem Buch, „Die Erfindung des Menschen. Wie wir die Evolution überlisten“, das sie gemeinsam mit Ko-Autorin Ursel Nendzig nächste Woche ebenfalls in Alpbach präsentieren wird.

500 Millionen Jahre noch

Darin führt sie uns zu allererst die Begrenztheit unserer Existenz vor Augen: Circa 500 Millionen Jahre wird es für Lebensformen unserer Art noch „gemütlich“ sein auf der Erde, wie sie – mit Verweis auf Astrophysiker Stephen Hawking – schreibt. Danach müssen wir uns extraterrestrisch nach neuem Lebensraum umsehen.

Sich nach neuem Lebensraum umsehen: Dass der Mensch überhaupt solche Alternativen überlegen kann, dass er Szenarien entwirft oder „Dinge denkt, die es nicht gibt“, wie Schroeder schreibt, das ist es, was ihn einzigartig macht. Die Evolution ist nicht zielgerichtet, in biologischen Systemen entsteht Information stets aus Zufall und Notwendigkeit. Der Mensch hingegen hat die Möglichkeit geschaffen, sich selbst ein Ziel zu setzen und dieses zu verfolgen.

„Die Erkenntnis daraus ist: Wir sind sehr selbstregulierend“, sagt Schroeder. „Wir erfinden uns selbst. Das führt dazu, dass wir uns bewusst werden, wie groß unser Einfluss ist. Und mit diesem Bewusstsein kommt die Verantwortung.“ Was fangen wir also mit unserem Einfluss an? Und wie gehen wir mit der daraus resultierenden Verantwortung um?

Schroeder: „Das müssen wir erst einmal schaffen! Beginnt man zuerst, sich versuchsweise einen Plan zurechtzulegen? Der Nachhaltigkeitsgedanke etwa ist seit Jahrzehnten präsent; er ist eine Reaktion auf die Verantwortung, auf unser Erkennen, dass die Natur unsere Nische ist.“ Dieser Gedanke komme aus vielen Richtungen, mit der immer gleichen Conclusio – „selbst in der zweiten Enzyklika von Papst Franziskus“, sagt Schroeder, die freilich wenig mit dessen Ausgangspunkt anfangen kann, die Erde als ein Geschenk Gottes an die Menschen zu begreifen.

Aus der Tatsache unserer Existenz entsteht Verantwortung, die wir als einmalige Chance oder als Bürde wahrnehmen könnten. Diese Erkenntnis ist für Schroeder Kern einer neuen Aufklärung – unter dem Motto „Aufklärung 2.0“ steht heuer das gesamte Forum.

Das Ende der Erbkrankheiten?

Dabei: „Macht es überhaupt einen Unterschied, ob wir in diesem Sinne aufgeklärt sind?“, fragt sich Schroeder. „Vielleicht würden wir intuitiv das Richtige tun.“ Viele unserer Handlungen seien nicht so rational, wie uns selbst dies scheinen mag. „Aber das Bewusstsein steigt und steigt, je mehr Wissen wir haben.“

Eine sehr bedeutende Erkenntnis jüngster Zeit stellt Schroeder in ihrem Buch vor: die Möglichkeit der Genom-Editierung, die schließlich ein Ende der Erbkrankheiten bedeuten könnte. Schon jetzt kann mit dieser Methode zum Beispiel eine genetisch bedingte Degeneration der Retina geheilt werden: Stammzellen des Patienten werden entnommen, ihr genetischer Defekt wird „repariert“ und die gesunden Zellen werden wieder eingepflanzt.

Besteht die Gefahr, dass der Mensch mit solchen Erfindungen zunehmend größenwahnsinnig wird? „Ich weiß noch nicht, wie der Mensch die Methode benützen wird, deshalb lässt sich das nicht abschätzen“, sagt Schroeder. Unter Forschern gibt es derzeit die Übereinkunft, die Genom-Editierung so lange nicht an menschlichen Embryonen anzuwenden, bis mehr über ihre Wirkung und Folgen bekannt ist. „Es stellt sich die Frage, ob Eltern die Methode für ihre Kinder überhaupt nutzen wollen. Ich hoffe, dass sie positiv genützt wird. Wir werden gesellschaftliche Regulative finden müssen, um damit zurechtzukommen.“

Austausch attraktiv machen

Fasziniert ist Schroeder immer wieder von evolutionären Vorgängen, von der Improvisationskunst der Natur: „Haben Sie vergangene Woche die ORF-Dokumentation über ein Dorf älterer Frauen im verstrahlten Gebiet rund um den Reaktor von Tschernobyl gesehen? Sie leben dort, ihre Männer und Kinder sind gestorben oder weg. Da würde mich interessieren: Wie sieht deren Genaktivität aus?“

Die DNA könne sich nämlich selbst reparieren und so Schäden in ihrer Struktur beseitigen. Um akademisches Wissen wie dieses auch unter die Leute zu bringen, der Gesellschaft zu vermitteln, sieht Schroeder die Wissenschaft in der Pflicht. Gleichzeitig funktioniere das freilich nur, „wenn Rahmenbedingungen für einen Dialog geschaffen werden. Und wenn die Leute bereit sind, etwas anzunehmen. Die Wissenschaft muss den Austausch attraktiv machen.“ Sie selbst jedenfalls empfinde „eine große Bringschuld. Aber es ist etwas, das ich gern bringe.“

>>> Zum Alpbach-Ressort

ZUR PERSON

Renée Schroeder (63) wurde in Brasilien geboren. Als sie 14 Jahre alt war, übersiedelte die Familie nach Bruck an der Mur. Sie studierte Biochemie an der Uni Wien. Nach Forschungsaufenthalten in Deutschland, Frankreich, USA war sie ab 1989 am Institut für Mikrobiologie und Genetik der Uni Wien tätig. Seit 2005 ist sie am Department für Biochemie der Max F. Perutz Laboratories tätig. Schroeder bezeichnet sich selbst als Atheistin und Feministin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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