Estnische Paare scheiden sich per Mausklick

Symbolbild
Symbolbild (c) www.BilderBox.com (www.BilderBox.com)
  • Drucken

Kein Land Europas hat seine Verwaltung so radikal auf elektronische Basis gestellt wie Estland. Siim Sikkut, Mastermind dieser digitalen Revolution, erzählt von Büros ohne Akten, Datenschutz und der Angst vor Angriffen.

Die Esten haben es nicht leicht. Lang und düster sind die Winter bei ihnen, da oben in der Nordostecke Europas. Ihr Land ist klein, mit 1,3 Millionen Einwohnern leben dort deutlich weniger Menschen als in Wien. Rohstoffe gibt es keine, außer viel Wald. Die Bevölkerung ist überaltert. Von den verbleibenden Jungen zogen früher viele ins Ausland. Die Wirtschaft ist sehr offen und Schocks von außen stark ausgesetzt. Der gefährliche Riese Russland grenzt direkt an, bei den Verteidigungsausgaben will niemand sparen. Die meist wirtschaftsliberalen Regierungen halten nichts von hohen Steuern. Das Land ist also zu Erfolg und guten Ideen geradezu verdammt.

„Wir hatten nur zwei Optionen: Nichts tun oder ein Risiko eingehen, etwas wagen. Und wir dachten: Vielleicht könnte ja Technologie ein wesentlicher Teil der Lösung sein“, erinnert sich Siim Sikkut. Der Mittdreißiger berät die Regierung in Tallinn in Fragen der Digitalisierung. Damit ist er der Mastermind hinter einer erstaunlichen Entwicklung Estlands in den vergangenen 15 Jahren: Wohl kein anderer Staat der Welt hat seine öffentliche Verwaltung so radikal auf elektronische Basis gestellt. Die Büros in den Behörden sind frei von Papier. Von der Wiege bis zur Bahre hat jeder Este eine Identifikationsnummer. Mit ihr unterschreibt er Verträge digital, geht virtuell zur realen Wahl, erhält Rezepte vom Arzt und erstellt seine Steuererklärung (das dauert im Schnitt drei Minuten und erfordert keinen Steuerberater, auch weil das Steuersystem so einfach ist). Sogar voneinander scheiden kann man sich per Online-Eingabe. „Nur Heiraten geht noch nicht“, grinst Sikkut. Der leibhaftige Gang zum Standesamt bleibt nicht erspart – wäre ja sonst auch ziemlich unromantisch.

Der jüngste Streich: die elektronische Staatsbürgerschaft für Ausländer, die in Estland Geschäfte machen wollen. Sie können damit online eine Firma gründen (dauert eine Stunde), Verträge unterschreiben und Banküberweisungen tätigen. Freilich muss der Antragsteller dazu persönlich vorstellig werden, für die biometrischen Daten – in der estnischen Botschaft in seiner Heimat. Auch Ausländern, die im Land arbeiten oder studieren, macht die „E-Residency“ das Leben leichter. All das soll Investoren ins Land locken. Die Idee dazu kommt gar nicht von den Esten, „das haben wir ganz unverblümt von Finnland kopiert“, nur der verpflichtende Charakter kommt dazu.

Keine Sorgen macht sich der Berater, dass andere Staaten beim E-Government aufholen (auch Österreich ist hier relativ weit) und den Esten ihr Alleinstellungsmerkmal streitig machen. Im Gegenteil: Dass längst auch die estnischen Unternehmen ihre Verträge digital unterschreiben, bringt ihnen erst dann wirklich viel, wenn es sich als gesamteuropäische Praxis durchsetzt. „Das würde den digitalen Binnenmarkt stark vorantreiben.“ Zudem bieten sich die geschäftstüchtigen Esten als Testmarkt für neue Ideen anderer Länder an: „Vor allem, wenn sie uns gut dafür bezahlen.“

Ermöglichen statt verbieten

Sikkut ist stolz darauf, in einem Land zu leben, in dem „Gesetze Dinge nicht verbieten oder einschränken, sondern ermöglichen“. Aber „ermöglicht“ die staatlich finanzierte Sammlung so vieler Daten nicht auch den durchleuchteten Bürger, der seine Privatsphäre verliert? Die Esten selbst vertrauen ihrer Regierung offenbar, Widerstände gab es keine. Freilich sind die Daten gesichert, teilweise technisch anonymisiert, und ihre Auswertung ist nur erlaubt, wenn der Betroffene explizit zustimmt. Aber auch wenn es die Regierung nur gut mit ihren Bürgern meinen sollte: Die in großem Stil gesammelten Daten sind wertvoll – und damit potenzielles Ziel für Cyberattacken von außen, auch durch ausländische Geheimdienste. Seit der Ukrainekrise steigt auch die Angst vor den Russen wieder. Estland bringt Kopien der Daten ins befreundete Ausland, auf Server in Botschaften. Weil das vom Platz nicht ausreicht, verhandelt man über Speicher auf externen Datenterritorien mit estnischem Recht.

Sikkut redet die Gefahr nicht klein: „Viel schlimmer als verletzte Vertraulichkeit ist, wenn Daten gefälscht werden – etwa die Blutgruppe in Gesundheitsakten.“ Aber Papierdokumente seien ja auch nicht sicher. „Wir ringen laufend um besseren Schutz“, nichts liege seiner Regierung mehr am Herzen: „Was ist der wichtigste Teil eines Rennwagens? Die Bremsen.“ Und so sei es eben auch bei den Daten und ihrer Sicherheit. „Aber Unfälle werden passieren. Das sagen wir den Bürgern auch.“ Und die, so scheint es, sind hart im Nehmen.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Symbolbild
Home

"Es gibt auf dieser Welt zu viele, die nichts zu verlieren haben"

Roland Koch. Der frühere CDU-Politiker sprach über Populismus, Ängste und darüber, dass Krisen am besten mit Wohlstand bekämpft werden.
Julia Hobsbawm
Home

Hobsbawm: "Netzwerk-Events sind schrecklich"

Julia Hobsbawm ist Professorin für Netzwerken in London. Trotzdem fühlt sie sich oft unwohl bei der Gesprächsanbahnung mit Unbekannten – doch das, meint sie, sei ganz normal.
Andrew Keen
Home

Jetzt beginnt die „Math Men“-Ära

Internetkritiker Andrew Keen hält nichts davon, wenn Länder das Silicon Valley kopieren. Programmieren werde bald so selbstverständlich sein wie Geschirr abwaschen.
Home

Generation Z will keine Verantwortung übernehmen

"Zwischen Pippi Langstrumpf und Nine to Five". "Die Presse", JTI und Suchocki Executive Search diskutierten über die Arbeitnehmer der Zukunft.
Eva Zeglovits
Home

Wie Angst das Wahlverhalten ändert

Sozialwissenschaftlerin Eva Zeglovits spricht über Furcht, die das (Wahl-)Verhalten beeinflussen kann. Und die Mobilisationskraft der Hoffnung.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.