Wenn Richter „Volksfeinde“ werden

Lord Thomas in Alpbach
Lord Thomas in AlpbachBogdan Baraghin
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Populismus und Justiz. Der britische Höchstrichter John Thomas, nach dem Brexit-Urteil heftig unter Beschuss, erklärt, wie Gerichte sich gegen öffentliche Kritik an ihrer Arbeit wehren sollen.

„Enemies of the People“, „Feinde des Volkes“: Diese Überschrift prangte auf der Titelseite der britischen Boulevardzeitung Daily Mail, nachdem der High Court of Justice am 3. November 2016 entschieden hatte, dass das Parlament ein Mitspracherecht beim Brexit hat, die Regierung also nicht im Alleingang das Ergebnis der Volksabstimmung zu Gunsten des Austritts Großbritanniens aus der EU umsetzen kann. Einer der drei auf der Titelseite abgebildeten „Volksfeinde“: Lord John Thomas of Cwmgiedd, seines Zeichens Lord Chief Justice von England und Wales. „Das kann passieren, wenn Richter populistischen Strömungen entgegenstehen“, sagte Thomas am Montag im Breakfast Club der Alpbacher Rechtsgespräche, dessen Thema „Die Rolle einer unabhängigen Justiz in Zeiten des Populismus“ war.

Dass die Gerichte generell viel aktiver geworden seien, um dem Prinzip des Rechtsstaats zum Durchbruch zu verhelfen, ist für Thomas einer der Gründe, warum Populisten und Justiz zunehmend aneinandergeraten. Das Recht könne zwar jederzeit geändert werden, aber nur unter Einhaltung der (verfassungsrechtlich) vorgesehenen Verfahren. „Deshalb werden Gerichte als Verhinderer gesehen“, so Thomas. Einen weiteren Grund für Widerstände gegen die Justiz sieht der Höchstrichter darin, dass die Politik – wohl unbedacht – den Gerichten immer mehr Macht eingeräumt habe. So hätte der britische Gesetzgeber nicht die Folgen erkannt, als er Ende der 1990er Jahre ermöglicht hatte, dass man sich vor britischen Gerichten auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) beruft.

Die Folge ist, dass die Gerichte verstärkt zu Entscheidungen aufgerufen sind, die zu treffen eher Sache des Gesetzgebers wäre. Thomas nannte als Beispiel die aktive Sterbehilfe, die ein todkranker Brite für sich vor Gericht eingefordert hatte. Die britischen Richter entschieden mehrheitlich dafür, dass dafür eine gesetzliche Grundlage nötig sei. Oder: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg hatte zu entscheiden, ob die EMRK auch auf Auslandseinsätze der britischen Armee zum Beispiel im Irak oder Afghanistan anzuwenden ist. Der Gerichtshof bejahte, was Kritiker auf die Kurzformel „Lawfare“ statt Warfare brachten – man brauche jetzt Juristen in der Truppe.

Wie sollen Gerichte auf populistische Kritik antworten? „Wir müssen der Öffentlichkeit erklären, wie wichtig wir sind“, sagte Thomas. Das könnte durch eine möglichst direkte Kommunikation mit der Öffentlichkeit geschehen, etwa indem Begründungen von Entscheidungen möglichst im Originalton verbreitet werden; ferner durch eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Zu allererst nennt Thomas aber die Unabhängigkeit der Justiz als Institution und der Richter als Individuen. Und die Gerichte müssten schnell arbeiten, um ernst genommen zu werden.

Unterstützen ohne Einmischen

Einen Schlüssel zum Erfolg sieht Thomas schließlich in „Mechanismen für eine gute Interdependenz“: Er meint damit das Zusammenspiel der Staatsgewalten – Gesetzgebung, Regierung und Justiz –, die einander unterstützen müssten, ohne sich wechselweise einzumischen. Thomas vermisste nach der öffentlichen Kritik am Brexit-Urteil klare Aussagen von Justizministerin und „Lord Chancellor“ Elizabeth Truss, der ersten Frau in diesen Positionen (14. Juli 2016 bis 11. Juni 2017), zur Verteidigung des High Courts. Truss habe ihre verfassungsrechtliche Pflicht verletzt, klagte der höchste Richter von England und Wales im März in aller Öffentlichkeit.

Wie die Beispiele Türkei, Ungarn und Polen zeigen, wo populistische Regierungen die Justiz in ihrer Unabhängigkeit beschneiden, ist das Thema der Konfrontation von Populismus und Justiz keineswegs auf Großbritannien beschränkt. Allerdings arbeitet die Politik dort mit – zumindest vorgeblich – legalen Mitteln daran, die Justiz mundtot zu machen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.08.2017)

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