Monika Stickler: „Fast jeder ist irgendwann traumatisiert“

Monika Stickler
Monika Stickler(c) Clemens Fabry (Presse)
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90 Prozent der Menschen in westlichen Ländern erleben zumindest einmal im Leben ein Trauma, sagt Monika Stickler von der Katastrophenhilfe des Roten Kreuzes. Denn: „Ein Trauma hat keine Altersgrenze.“

Die Presse: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, sagt der Volksmund. Der eine kann mit Krisen umgehen, der andere nicht, sagen Resilienz-Forscher. Der Psychologe George Bonanno hält beides für falsch. Sie?

Monika Stickler: Bonanno hat nicht ganz Unrecht. Persönlichkeit und Sozialisation sind ausschlaggebend, ebenso die Fähigkeit, sich zu erholen – wie gut kann ich wieder Ruhe in mein Leben bringen – und die Veränderungsfähigkeit. Denn nur weil etwas passiert ist, heißt das noch lange nicht, dass ich fähig bin, darauf zu reagieren.

Resilienz ist also erlernbar?

Sie ist bedingt lernbar. Habe ich als Kind gelernt, dass ich auf Dinge einwirken kann, nehme ich das ins Erwachsenenleben mit. War ich stets hilflos, bleibe ich hilflos. Die klassische Konditionierung greift: Das Kind zieht aus Belohnung und Bestrafung gleichsam seine Schlüsse.

Bestrafung bedeutet Trauma?

Ein Trauma für den einen muss kein Trauma für den anderen sein. Aber ja: Belohnung stärkt positiv. Fast jeder erlebt in seinem Leben mehrere Traumata, die wenigsten sind deshalb in Behandlung. Ein Trauma zu überwinden muss nicht per se schmerzhaft sein, es kann uns zum Negativen, aber auch zum Positiven verändern.

Hat letztlich jeder sein Trauma?

90 Prozent der Menschen in westlichen Ländern werden zumindest einmal im Leben traumatisiert. Das heißt: Fast jeder von uns ist irgendwann irgendwie traumatisiert. Aber: Nur ein ganz kleiner Anteil, fünf bis zehn Prozent, trägt psychische Schäden davon und bedarf Betreuung.

Wie bemerkt man eine Traumatisierung?

Die Klassiker sind: Schlaflosigkeit, Flashbacks, Unruhe. Gerüche können sehr intensive Erinnerungen auslösen. Bis ein Trauma auftritt, können aber Stunden bis Jahrzehnte vergehen. Oft poppt es auf, ohne kausalen Zusammenhang. Plötzlich reagiert man nervöser, beginnt wieder zu rauchen, zu trinken, schläft schlechter.

Sind Kinder wiederstandfähiger als Erwachsene?

Kinder sind eher vulnerabel, da sie Abläufe massiver wahrnehmen, oft weniger Auswege im Blick haben. Aber: Ein Trauma hat keine Altersgrenze. Bei einem Zweijährigen, der sexuell missbraucht wird, drückt sich das Erlebte anders aus als bei einem Zehnjährigen, der in der Familie Gewalt erfährt. Die Traumatisierung bleibt dieselbe.

Was bedeutet das?

Dass der Zwei- und der Zehnjährige andere Möglichkeiten zu verstehen und zu handeln haben. Ein Zweijähriger ist auf direkte Bezugspersonen angewiesen und so ausgelieferter als ein Zehnjähriger.

Sanitäter, Feuerwehrleute, Bergretter sind häufiger mit Extremsituationen konfrontiert als ein Durchschnittsmensch. Was erschüttert am meisten?

Die Belastungen reichen vom Verkehrsunfall über soziale Indikationen – etwa eine Messi-Wohnung – bis zu Gewalterfahrungen, wobei sich individuell unterscheidet, was Gewalt ist. Hauskrankenpfleger tolerieren einen um sich schlagenden Patienten eher als ein Notarzt. Beide werden aber wohl keine Anzeige machen. Doch erschüttert es das Weltbild des helfenden Samariters, wenn er helfen will und dafür eines auf die Nase bekommt.

Nimmt die Gewalttätigkeit gegenüber Helfern zu?

Ja – sowohl bei Rettungskräften als auch bei Polizisten und Feuerwehrleuten. Insbesondere Polizisten werden extrem häufig beschimpft, bedroht.

Woher rührt der Anstieg?

Ich denke, das hat mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Es gibt viele Vermutungen. Was wir wissen ist, dass immer öfter Berufsgruppen, die früher nicht Zielscheibe von Gewalt waren, direkte Gewalterfahrungen machen. Das reicht von Beschimpfungen bis zu körperlichen Angriffen. Dasselbe Phänomen ist in Krankenhäusern oder beim Personal in der Hauskrankenpflege zu beobachten.

Gibt es genugHilfe für Helfer?

Personen im Rettungsdienst sind resilienter als die durchschnittliche Bevölkerung. Sie wissen, was auf sie zukommen kann und nehmen das aktiv an – Extreme gehören zur Biografie. Während der Ausbildung werden sie mit Bildern konfrontiert, brenzlige Situationen werden geschildert. In allen Einsatzorganisationen gibt es zudem ein Peer-System. Das heißt: Ein Gleicher unter Gleichen steht als Ansprechpartner bereit.

Wie entspannen Retter?

Es geht darum, sich selbst Gutes zu tun: Tee trinken, ein Buch lesen, Freunde treffen, Yoga. Alles ist erlaubt, was den Betroffenen aus der Hochstressphase herausbringt, wieder erdet.

Reicht Yoga tatsächlich aus, um Intensiverfahrungen wie Schusswechsel zu verarbeiten?

Stressreduktion ist ein Baustein für Erholung. Ein weiterer ist das Gespräch mit Kollegen, die Möglichkeit zu verstehen, wie es zum Ereignis gekommen ist. Bei Bedarf stehen auch psychosoziale Fachkräfte zur Verfügung.

Rettungskräfte im Team unterwegs, Pfleger sind zumeist alleine. Wo finden sie Hilfe?

Während die Rettungskräfte in den Medien die Helden sind, nimmt die Hauskrankenpfleger kaum jemand wahr. Dabei leisten sie Enormes. Ein Beispiel: Demenzielle Patienten schreien, können körperlich angriffig werden, weil sie vergessen haben, dass ihnen geholfen wird. Der Zeitdruck macht Gespräche und Feedback mit anderen schwieriger. Auch die Bindung zum Patienten ist anders: Ein Rettungseinsatz endet mit der Abgabe im Krankenhaus, ein Pflegeverhältnis kann Jahre andauern.

Laut Ulrike Ehlert, Psychologin an der Uni Zürich, schützt ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit – das Gefühl, kompetent zu sein – davor, posttraumatische Belastungsstörungen zu entwickeln.

Das Gefühl der Handlungsfähigkeit, die eigenen Emotionen im Griff zu haben, zu reflektieren, das hilft, mit Stresssituationen besser klarzukommen. Und: die Routine. Aber: Ein erstes Mal gibt es immer. Bei noch so viel Trockentraining kann dennoch niemand abschätzen, wie er reagiert, wenn er das erste Mal einen anderen Menschen reanimieren soll.

Veranstaltung

Heute, Dienstag, von 16 bis 17.30 Uhr, diskutiert Monika Stickler im Heiss-Saal des Congress Centrums über das Thema „Trauma und Resilienz“. Sie leitet die Abteilung für Psychosoziale Betreuung und den Rettungsdienst im Österreichischen Roten Kreuz. Die studierte Pflegewissenschaftlerin ist als Notfallsanitäterin, Kriseninterventionsmitarbeiterin und in der Einsatzkräftenachsorge ehrenamtlich tätig.

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