Friedensangebot oder Verbot: Die Übergangsregierung zeigt sich unschlüssig über das weitere Vorgehen gegenüber den Muslimbrüdern. Die Armee baut unter ihrem Chef al-Sisi unterdessen ihre Machtposition aus.
Kairo/Mg/Ag. Die Rauchschwaden der Angriffe der vergangenen Woche hatten sich weitgehend verzogen, als am Sonntag in Kairo zunächst relative Ruhe einkehrte. Zentrale Plätze in der ägyptischen Hauptstadt blieben geschlossen, in den Straßen patrouillierten Soldaten, die an den zahlreichen Checkpoints Passanten kontrollierten.
Während die Angehörigen darangingen, die Opfer der jüngsten Übergriffe der Sicherheitskräfte zu bestatten, sagten die Muslimbrüder überraschend eine Protestkundgebung ab. Ob dies aus Angst vor einer neuerlichen Eskalation nach der Auflösung des Protestcamps im Stadtteil Nasser City, dem „Tag des Zorns“ und dem Sturm auf die al-Fath-Moschee geschah oder ob es einen Richtungsstreit in der Opposition signalisiert, blieb offen. Trotz der massiven Einschüchterung durch die Armee hatten die Muslimbrüder zuvor eine Protestwelle in der kommenden Woche angekündigt.
Indessen kam die Übergangsregierung zu einer Krisensitzung zusammen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Armeechef Abdel Fattah al-Sisi rief die Islamisten zur Umkehr auf. „Ägypten hat Platz für alle“, appellierte er. Al-Sisi forderte sie auf, sich am politischen Prozess zu beteiligen und ihren Protest aufzugeben. Zugleich drohte er mit neuer Gewalt, sollten die Muslimbrüder ihre Kundgebungen fortsetzen. Zur Debatte stand ein Verbot der Organisation, wie sie in der Ära Mubarak bestanden hatte. Dies hatte Premier al-Beblawi vorgeschlagen. Sein Vizepremier wollte sich wiederum für eine Aussöhnung und ein Ende des Ausnahmezustands einsetzen.
Apokalyptischer Endkampf
Derweil läuft das große Rollback. Ägyptens neue Führung nimmt wieder Maß an der alten Mubarak-Zeit, um darauf eine Zukunft aufzubauen. In den Provinzen wurden Militärs als Gouverneure eingesetzt. Die jahrzehntelangen tragenden Eckpfeiler des Machtgefüges werden neu befestigt und ausgebaut. Mit dem Sturz von Mohammed Mursi hat sich die Armee wieder als permanente überpolitische Kontrollinstanz etabliert. Gleichzeitig wird der Antagonismus zwischen säkularem und islamistischem Lager so stark angeheizt, dass der alte Polizeistaat, der die Post-Mubarak-Phase gänzlich unreformiert und unangetastet überstanden hat, durch die eskalierende Gewalt bald allmächtiger werden könnte als je zuvor.
Zwei Narrative der ägyptischen Ereignisse haben sich inzwischen herausgebildet, die völlig parallel nebeneinander herlaufen: das innerägyptische und das ausländische. Für die neuen Machthaber und die sie stützende Öffentlichkeit befindet sich ihre Heimat in einem apokalyptischen Endkampf zwischen den Kräften des Lichts und den Kräften der Dunkelheit. Millionen Muslimbrüder werden pauschal als Terroristen diffamiert.
Das Massaker von Polizei und Armee mit über 600 Toten, das in der Geschichte Ägyptens zu den schrecklichsten Gewaltexzessen gegen das eigene Volk gehört, wird im chauvinistischen Kairoer Taumel einfach ausgeblendet. Stattdessen wächst bei Kairos neuen Mächtigen die Wut, dass außer dem saudischen König offenbar niemand auf dem Globus ihre spezielle Sicht der Dinge teilt.
Gleichzeitig lässt man durchblicken, dass man das warnende Narrativ des Westens, Armee und politische Elite müssten der Muslimbruderschaft eine echte Beteiligung am künftigen Machtgefüge anbieten, als lästiges Gerede nicht mehr hören könne. Dadurch aber wird die innere Polarisierung – entgegen allen Beteuerungen der Regierungsmitglieder – immer tiefer einzementiert. Denn Ägyptens politische Klasse verfügt nicht über die mentalen Ressourcen, Vertrauen zwischen den beiden verfeindeten Lagern aufzubauen und die gegenseitige Dämonisierung zum Wohl des gemeinsamen Landes zu beenden. Es gibt keine Kultur der Moderation, der Selbstbegrenzung und des echten Kompromisses.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2013)