Wer entscheidet, ob Charlie stirbt?

„Wenn er kämpft, dann kämpfen wir auch“, steht auf dem T-Shirt eines Demonstranten in London. Er fordert, dass Charlie Gard weiter leben darf.
„Wenn er kämpft, dann kämpfen wir auch“, steht auf dem T-Shirt eines Demonstranten in London. Er fordert, dass Charlie Gard weiter leben darf.(c) imago/PA Images (David Mizoeff)
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Der elfmonatige Charlie Gard ist todkrank. Das Europäische Menschenrechtsgericht urteilte, dass die Ärzte die Maschinen abschalten dürfen – gegen den Willen der Eltern.

Wien/London. Mit geschlossenen Augen liegt Charlie Gard zwischen seinen Eltern. Seine blonden Haare sind zerzaust, bunte Lichter und Dutzende Stofftiere sind ringsum auf seinem Bettchen verteilt. Ein langes braunes Pflaster zieht sich quer über seine Nase: In einem Monat würde der kleine Bub ein Jahr alt und doch ist er schon einen Großteil seines Lebens von einem grünen Plastikschlauch abhängig, der ihn beatmet und künstlich ernährt.

Das elf Monate alte Kind kann nichts sehen oder hören, es kann sich nicht bewegen, nicht schlucken oder weinen. Regelmäßig erleidet es epileptische Anfälle, sein Hirn hat schwere Schäden davongetragen. Charlie ist eines von 16 Kleinkindern weltweit, die an Mitochondrialem DNA-Depletionssyndrom, einer schweren Erbkrankheit, leiden. Seinen Zellen fehlt die Kraft, Muskeln und Organe mit Energie zu versorgen. Eine etablierte Therapie für die Erkrankung gibt es nicht, Heilung ist ausgeschlossen.

Seit vergangener Woche steht nun fest: Das Londoner Great Ormond Hospital, in dem Charlie in Behandlung ist, darf die lebenserhaltenden Maßnahmen stoppen. Das entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Damit endete ein monatelanger Kampf der Eltern, Connie Yates und Chris Gard, ihren schwerkranken Sohn in den USA einer kaum erforschten, experimentellen Therapie zu unterziehen. Denn das Urteil ist endgültig.

„Mehr Schmerz und Leid“

Die europäischen Richter stellten sich – wie zuvor die britischen Gerichte – auf Seite der Ärzte. Es sei im Sinne des Kindes, die lebenserhaltenden Maßnahmen zu beenden. „Es gibt keine realistische, alternative Therapie für den armen Charlie“, argumentierte Höchstrichter Nicholas Francis im April. Je länger Charlie am Leben gehalten werde, desto „mehr Schmerz, Leid und Elend“ erwarte ihn. Seine Eltern aber seien emotional so stark involviert, dass sie nicht mehr rational entscheiden könnten. Die Ärzte dürften dem Baby das „Sterben in Würde“ ermöglichen.

Charlies Eltern sehen das anders: Das Urteil, die Geräte für ihren Sohn abzuschalten, sei ein Eingriff in seine und ihre Grundrechte. Bis zuletzt klammerten sie sich an die Hoffnung, dass ihr Sohn mit der sechsmonatigen Therapie in den USA trotz seiner Hirnschäden zumindest wieder lächeln oder nach Gegenständen greifen können würde. Er habe keine Schmerzen, sind sie überzeugt. Rund 1,5 Millionen Euro Spenden sammelte das Paar, um die Behandlung zu finanzieren. Unter dem Motto „Charlies Kampf“ machten die beiden auf ihr Schicksal aufmerksam.

Sein Sohn sei ein Kämpfer, erklärt Chris Gard bei seinem ersten Auftritt nach dem endgültigen Urteil. Die Tränen konnte er dabei nur schwer zurückhalten: Das Spital hat der Familie zwar mehr Zeit zum Abschied gegeben, doch ihren letzten Wunsch, Charlie zum Sterben nach Hause nehmen zu dürfen, verwehrten die Ärzte aus rechtlichen Gründen.

Papst und Trump intervenieren

„Wenn er kämpft, kämpfen auch wir weiter“, schrieben die Eltern auf Twitter, nachdem Papst Franziskus und US–Präsident Donald Trump öffentlich ihre Unterstützung zusagten. Dies habe den Abschied für die Familie, nun da alle rechtlichen Mittel erschöpft seien, nur erschwert, meinen Experten.

Doch der Fall zeigt ein weiteres Problem auf: Dürfen sich Gerichte über den Willen der Eltern als rechtliche Vertreter ihres Kindes derart hinwegsetzen? Wissen Ärzte besser als die Eltern, was im Wohl des Kindes ist? Auf Österreich umgemünzt, erklärt Christiane Druml, Leiterin der österreichischen Bioethikkommission, gehe der Wille des Patienten nur soweit, wie ein medizinischer Nutzen für eine Behandlung gegeben sei. Ärzte seien daher nicht verpflichtet, eine Behandlung durchzuführen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.07.2017)

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