Nach Jahrzehnten des Terrors ist die Provinz heute die sicherste im Vereinigten Königreich. Doch sie leidet unter der Rezession.
London/Belfast. Trotz – oder vielleicht wegen – ihrer tragischen Geschichte ist die Titanic das bekannteste und auch stolzeste Produkt, das jemals in Nordirland hergestellt wurde. Zum 100. Jahrestag ihrer verhängnisvollen Jungfernfahrt wurde im Vorjahr die heute stillgelegte Belfaster Werft um nicht weniger als 90 Millionen Pfund in ein multimediales Ausstellungszentrum ersten Ranges umgebaut. Die Großinvestition war auch ein Zeichen dafür, dass Nordirland nach Jahrzehnten des Bürgerkriegs heute nach vorn blickt und etwa den Tourismussektor als Einnahmequelle kräftig ausbaut. Doch wie die Titanic einst an den unter Wasser verborgenen Teilen des Eisbergs zerschellte, bedrohen unter der Oberfläche fortbestehende gesellschaftliche Spannungen den Friedensprozess in der Provinz.
Protestwelle in Belfast
15 Jahre nach Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens in Belfast am 10. April 1998 zwischen nordirischen Protestanten und Katholiken sowie ihren jeweiligen Schutzmächten, den Regierungen Großbritanniens und Irlands, scheint die Krisenprovinz zur Ruhe gefunden zu haben. Seit 2007 regiert eine Koalition aus den Führungsparteien der beiden Lager – Democratic Unionist Party (DUP) für die probritischen Protestanten und Sinn Féin für die proirischen Katholiken – fast schon zu einträchtig das Land.
Die gewalttätigen Proteste in Belfast nach dem Gemeinderatsbeschluss im Dezember, das Hissen der britischen Flagge auf 18 Tage im Jahr einzuschränken, warfen ein Schlaglicht auf ein tiefes Gefühl der Entfremdung insbesondere unter der protestantischen Arbeiterklasse: „Für uns tritt keiner mehr ein“, sagt Wayne Cummings, einer der Anführer der Proteste. „Wenn es eine Friedensdividende gegeben hat, dann ist sie bei uns nicht angekommen.“
„Wir stehen mit leeren Händen da“
Tatsächlich trifft die Wirtschaftskrise Nordirland hart, die wichtigsten Partner Irland und England stecken tief in der Rezession. Seit fünf Jahren hat die nordirische Wirtschaft kein Wachstum mehr geschafft. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mit 22,3 Prozent weit über dem britischen Durchschnitt.
Mehr als 30 Prozent aller Jobs vergibt die öffentliche Hand, doch London fährt einen Sparkurs. Selbst die britische Regierung schreibt: „Das Lebensniveau in Nordirland wird bis 2030 auf 75 Prozent des britischen Gesamtdurchschnitts sinken.“
Doch so düster diese Aussichten sein mögen, nichts gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit den Friedensprozess mehr als die Annahme, dass die jeweils andere Volksgruppe besser dastehen könnte: „Sie bekommen alles, und wir stehen mit leeren Händen da“, sagt Willie Frazer, ein Anführer der Belfaster Proteste. Paul Reilly von der Universität Leicester meint: „Es gibt die Wahrnehmung, dass die Gleichstellung zwischen Protestanten und Katholiken Verlust bedeutet hat.“
Diese Wahrnehmung wird durch die Evidenz nicht bestätigt. Unter den zehn ärmsten Bezirken Belfasts sind weiterhin acht in katholischen Wohngebieten. Der Politiker John Cushnahan von der liberalen Alliance Party warnt: „Der Krieg ist vorbei, aber der Kampf um die Aussöhnung hat noch nicht einmal begonnen.“
Die zufriedensten Bürger des Königreiches
Doch allein das Ende des Krieges hat Nordirland in den vergangenen fünfzehn Jahren radikal verwandelt. Mehr als 3500 Menschen wurden zwischen 1968 und 1998 Opfer politischer Gewalt. Heute hat die Provinz die niedrigste Kriminalitätsrate des Vereinigten Königreichs. Die einstige britische Nordirland-Ministerin Mo Mowlam beklagte einst, dass „der Friedensprozess kein Anliegen der kleinen Leute“ sei.
Dagegen hat sich heute die Ansicht durchgesetzt, dass „die wahre Veränderung nur in den Gemeinden beginnen kann“, wie der nordirische Justizminister David Ford sagt. Trotz aller Rückschläge ist diese Arbeit in vollem Gange und zeitigt Erfolge. Der jüngste „Wohlbefinden-Index“ des britischen Statistikamts vom September 2012 erbrachte einen Überraschungssieger: Demnach sind die Bewohner Nordirlands die glücklichsten und zufriedensten Bürger des Vereinigten Königreichs.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2013)