Kurdenkonflikt: Frieden als Mittel gegen die Armut

Demonstrators hold Kurdish flags and flags with portraits of jailed Kurdistan Workers Party leader Ocalan during a gathering to celebrate Newroz in the southeastern Turkish city of Diyarbakir
Demonstrators hold Kurdish flags and flags with portraits of jailed Kurdistan Workers Party leader Ocalan during a gathering to celebrate Newroz in the southeastern Turkish city of DiyarbakirREUTERS
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Seit PKK-Chef Öcalan zum Waffenstillstand aufgerufen hat, verbesserte sich die Einstellung vieler Türken zu den Kurden. In der verarmten Kurdenregion hofft man auf einen Wirtschaftsaufschwung.

Istanbul. Serdar Ortac war den Türken bisher nicht als politischer Kommentator bekannt. Ortac ist einer der beliebtesten Sänger des Landes, ein Disco-Star und Frauenschwarm, der über Liebe und Leidenschaft singt, aber die großen Fragen der Zeit lieber anderen überlässt. Doch der Friedensappell von Abdullah Öcalan, dem Chef der kurdischen Untergrundbewegung PKK, vom 21.März hat auch für Ortac vieles verändert. Nicht nur die Kurden in der Türkei schöpfen neue Hoffnung – selbst der Schnulzensänger Ortac beklagt die Fehler der bisherigen Kurdenpolitik und träumt vom Frieden.

Über Jahre sei die Existenz der Kurden in der Türkei einfach geleugnet worden, sagte Ortac jetzt in der Talentshow „Popstar 2013“ des Privatsenders Star. Auch ihm selbst sei diese falsche Haltung eingeimpft worden. Bei einer Preisverleihung für den kurdischen Sänger Ahmet Kaya hatte Ortac 1999 zu einer Gruppe türkischer Künstler gehört, die gegen die damalige Ankündigung von Kaya protestiert hatten, ein kurdisches Lied aufnehmen zu wollen. Die kurdische Sprache galt damals als Ausdruck des Separatismus. Jetzt zeigte Ortac vor laufenden Kameras Reue. Er hoffe, demnächst auch bei „Popstar“ ein kurdisches Lied hören zu können. „Dann werden wir alle, und vor allem ich selbst, uns dafür schämen, was wir getan haben.“

60 Prozent unterstützen Friedensplan

Wenn ein bisher völlig unpolitischer Schlagerstar vor einem Millionenpublikum plötzlich Botschaften der Verbrüderung von Türken und Kurden von sich gibt, dann ist etwas Ungewöhnliches geschehen.

Laut Umfragen unterstützen knapp 60 Prozent der türkischen Wähler den Kurs der Regierung, den seit fast 30 Jahren anhaltenden Kurdenkonflikt mithilfe von Verhandlungen mit dem inhaftierten PKK-Chef Öcalan beizulegen. Im nationalistischen Lager regt sich zwar Widerstand – doch das Beispiel Ortac zeigt, dass die Sehnsucht nach Frieden weitverbreitet ist.

Das ist nicht zuletzt im armen kurdischen Südosten des Landes so – in der Provinz Hakkari zum Beispiel, die im Dreiländereck zwischen der Türkei, dem Iran und dem Irak liegt. Die Gegend gehört zu den ärmsten Gebieten des Landes und war bisher ein Hauptkriegsschauplatz des Kurdenkonflikts. Nach Abdullah Öcalans Waffenstillstandsappell sehnen die Menschen dort aber Fabriken, Investitionen, Arbeitsplätze und langfristig auch Touristen herbei.

Sait Caglayan wurde in Hakkari geboren und hat sein ganzes Leben in der Gegend verbracht. Der 50-Jährige ist Sekretär des türkischen Menschenrechtsvereins IHD in der Provinz, und er hat im Laufe der Jahre häufig am eigenen Leib zu spüren bekommen, wie sehr der Kurdenkonflikt die Gegend und die Menschen geprägt hat. Erst im vergangenen Jahr wurde Caglayan selbst wegen des Verdachts auf Unterstützung der PKK einige Tage lang eingesperrt.

„Von meinen 50 Jahren habe ich 30 im Krieg verbracht“, sagte Caglayan der „Presse“ am Telefon. „Es waren nicht nur die Kämpfe, es war auch der psychologische Druck.“ Alltag bedeutete Kriegsalltag in Hakkari. Schwer bewaffnete Einheiten der türkischen Armee fuhren durch die Straßen der Städte, Kampfflugzeuge überflogen die Gegend, PKK-Einheiten sickerten über die nahe Grenze aus dem nahen Nordirak ein, griffen türkische Armeepatrouillen an und verübten Anschläge.

Der lange Krieg hat Hakkari vom Wirtschaftsboom im Rest der Türkei abgeschnitten. Das jährliche Einkommen eines Bürgers in der Provinz liegt bei umgerechnet etwa 3400 Euro – weit unter dem türkischen Gesamtdurchschnitt von knapp 12.000 Euro. „Es gibt keine Fabriken hier, keine Arbeitsplätze“, sagte Caglayan.

„Das gibt uns neuen Sauerstoff“

Dabei hat die wildromantische Gegend große Potenziale. Die Nähe zum Irak und zum Iran könnten die Provinz zu einem Umschlagsort für den Handel machen. Derzeit sind allerdings viele Grenzübergänge wegen des PKK-Konflikts geschlossen. Caglayan hofft, dass sich das bald ändern wird. Der erste Flughafen in der Provinz soll noch in diesem Jahr eröffnet werden.

„Das gibt uns eine neue Atmosphäre, neuen Sauerstoff“, sagte Caglayan über die Veränderungen, die er für die Provinz Hakkari erhofft. Wenn beide Seiten in guter Absicht ans Werk gingen, dann werde sich die Lage in der Provinz sehr zum Besseren wandeln.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.03.2013)

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