Ostukraine: Der unbemerkte Krieg im Donbass

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Der Waffenstillstand existiert nur noch auf dem Papier. Experten befürchten erneut offene Kämpfe in der Ostukraine. Ob genügend Interesse an Deeskalation besteht, ist fraglich.

Kiew. Würden die Waffen zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten tatsächlich schweigen, Andrij Lysenko hätte bei seinem täglichen Briefing im Kiewer Hotel Ukraina nicht so viel zu erzählen. Doch der am 5. September im Rahmen des Minsker Memorandums geschlossene Waffenstillstand wird nicht eingehalten – und der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates präsentiert Journalisten Tag für Tag eine lange Liste der Übertretungen. Auch gestern wieder. Obwohl die ukrainische Armee am Dienstagabend neuerlich eine Feuerpause ausrief, wurden in Donezk wieder Artilleriegeschosse abgefeuert. Auch bei Schtschastie wurden ukrainische Stellungen von den Separatisten 20-mal attackiert, drei Soldaten starben, fünf wurden verwundet. Die Separatisten gaben an, von der abendlichen Feuerpause nichts gewusst zu haben. Nach Angaben der UNO wurden seit dem 5.September 330 Menschen getötet.

Schon in den vergangenen Tagen war es zu schweren Kämpfen auf dem Flughafen Donezk gekommen. Ukrainische Truppen halten den strategisch wichtigen Posten besetzt – es ist ihr letzter Zugriff auf die Stadt. Laut ukrainischen Angaben kann die Rollbahn nach wie vor benutzt werden.

Als neuer möglicher Hotspot aber gilt der Süden des Donbass. Laut Lysenko kommt es in der Region zu einer „Neugruppierung von Truppen“, auch Spionage- und Sabotageaktivitäten seien vermehrt festzustellen. Am Mittwoch erklärte der Kommandant des Bataillons Asow, Andrij Bilezkij, prorussische Verbände hätten ungeachtet der Waffenruhe vor Mariupol Territorium dazugewonnen.

Angesichts einer Waffenruhe, die nicht eingehalten wird, mehrt sich in der Ukraine die Kritik an der Beobachtungsmission der OSZE. Der Tenor, so etwa ausgedrückt von Bilezkij: Das Monitoring sei wirkungslos, der Gegner mache Gebietsgewinne. Solange die Lage vor Ort derart volatil ist, haben die Beobachter tatsächlich Probleme, zum Einsatz zu kommen. Präsident Poroschenko wünscht sich 1500 OSZE-Beobachter. Derzeit sind in der Ukraine 300 Beobachter im Einsatz, die seit März angepeilte Zahl von 500 wurde also noch nicht erreicht.

Ausgehend von der aktuellen Lage scheinen drei Szenarien für den Donbass wahrscheinlich:
•Konflikt schwelt weiter. Dieses Szenario geht von einer Fortsetzung des Status quo aus: Der Waffenstillstand wird leidlich eingehalten, doch beide Seiten vermeiden eine Eskalation. Das Kalkül: An einer Aufkündigung des Friedensplans besteht derzeit beiderseits kein Interesse. Der Kiewer Analyst Wolodymyr Gorbatsch vom Institut für euro-atlantische Kooperation schätzt, dass der Konflikt in geringer Intensität „bis zum Frühling“ weitergehen könnte. Beide Seiten könnten die kalten Monate freilich auch dazu nutzen, um sich für eine Frühjahrsoffensive militärisch neu aufzustellen.

•Friedensprozess nimmt Fahrt auf. Das Minsker Memorandum wird doch noch umgesetzt. Konkrete Schritte wären die Einrichtung der 30 Kilometer breiten Pufferzone zwischen den Fronten, Entmilitarisierung des Kampfgebiets, Überwachung der Grenze durch OSZE-Beobachter und unbemannte Flugzeuge. Auch will Kiew Lokalwahlen im Donbass durchführen, in denen die Bevölkerung gewählte Vertreter ermitteln soll. Geplanter Wahltermin: 7. Dezember. Kiew will so ein allmähliches Ausklinken des Gebiets aus seinem Staatswesen verhindern. Bisher lehnen die prorussischen Regionalherren den Vorschlag ab. Sie haben nun Wahlen für den 9. November angesetzt, in denen ein „Republikschef“ und Abgeordnete ermittelt werden sollen. Kiew will die Wahl nicht anerkennen; verhindern kann es sie nicht.

•Eskalation im Süden. Das dritte Szenario, so Gorbatsch, ist eine Offensive russischer bzw. prorussischer Kräfte noch vor den ukrainischen Parlamentswahlen am 26. Oktober. Möglicher Zeitpunkt: die Tage rund um den 15. Oktober. Ziel einer solchen Operation wäre es, die wichtige Hafenstadt Mariupol einzunehmen und einen Landkorridor auf die Krim zu schlagen. Denn die Krim wird im Winter, wenn die Straße von Kertsch zwischen der Halbinsel und dem russischen Festland zufriert, ein Versorgungsproblem haben. Auch Wasser und Strom kommen aus der Ukraine. „Greift Putin nicht an, muss er mit der Ukraine über diese Dinge verhandeln“, so Gorbatsch, der glaubt, dass Kompromisse Putins „Image des Siegers“ bedrohten. Tatsächlich hat die Logik der Eskalation bisher gut funktioniert. Käme es zu einer Militäroperation, müsste Poroschenko die Wahlen absagen. Sein Friedenskurs, der innenpolitisch umstritten ist, wäre damit am Ende, ebenso wie die Autorität des Staatschefs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2014)

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