Als OSZE-Vorsitzender begab sich der Außenminister schon zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen ins Krisengebiet. Er versucht sich als Vermittler zwischen Kiew und Moskau. Fürs Erste rückt die humanitäre Lage ins Zentrum.
Der Kiewer Bogen der Völkerfreundschaft, ein Sowjetdenkmal aus den frühen 1980er-Jahren, verschwindet im Nebel. Es ist eisig. Sebastian Kurz bleibt nicht lange. Die Metapher passt: Die Freundschaft zwischen den Brudervölkern Russland und Ukraine ist eingefroren. Im Schlepptau hat der Außenminister eine Jugendkontaktgruppe der OSZE, ein Dutzend junger Menschen aus allen Ecken der Ukraine, das sich zum Ziel gesetzt hat, im Gespräch zu bleiben. Eine von ihnen ist Ulyana Ehorova, 26 Jahre, kastanienbraunes Haar, wache Augen, stets ein Lächeln auf pink geschminkten Lippen. Die Philologin stammt aus Donezk, aus der Kriegszone. Ihre Eltern leben noch dort, sie nicht mehr. Die prorussischen Separatisten haben ihre Organisation Verantwortliche Bürger aus der Metropole im Osten der Ukraine vertrieben. Jetzt leitet sie das Büro in Kramatorsk.
Ziel ihrer Vereinigung ist es, Bürgern auf beiden Seiten der sogenannten Kontaktlinie zu helfen, die den Donbass in zwei Teile spaltet, einen prorussischen und einen regierungstreuen. Sie macht sich keine Illusionen. „Der eingefrorene Konflikt wird noch sehr lange andauern und nachwirken.“ Eine ganze Generation sei vom Krieg traumatisiert, Zehntausende Minen lägen unter der Erde.
Sebastian Kurz ist als Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in die Ukraine gekommen, zum zweiten Mal schon in diesem Jahr. Anfang Jänner hatte er sich in einem Militärhubschrauber im Tiefflug an die Front im Donbass begeben. Jetzt versucht er diplomatische Fäden weiterzuspinnen. An eine schnelle, einfache und große Lösung des Konflikts glaubt Kurz ebenso wenig wie die junge Ukrainerin Ulyana. Seine sechs Ukraine-Besuche in den vergangenen zweieinhalb Jahren haben ihn zum Realisten gemacht. Seine Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten, Petro Poroschenko, und Außenminister Pawlo Klimkin haben diese Einschätzung wohl bestätigt. Kurz erwartet keinen Durchbruch. Er arbeitet auf dem diplomatischen Millimeterpapier.
Den OSZE-Vorsitz will Kurz nützen, um möglichst konkrete Verbesserungen für die Menschen in der Ostukraine zu erreichen. Wenn politisch nichts geht, rückt das Humanitäre in den Mittelpunkt. Da gibt es viel zu tun. Vier bis zwölf Stunden muss Ulyana Ehorova in langen Menschenschlangen frierend vor den Checkpoints warten, wenn sie zu ihren Eltern nach Donezk will. Mit ihren Freunden verkauft sie in Kiew T-Shirts, um Spenden zu sammeln. Denn es mangelt an fast allem. Wasser, Strom und Lebensmittel sind zwischen Donezk und Luhansk vielerorts knapp. Die ukrainische Regierung weigert sich zudem, Pensionszahlungen an Bürger zu überweisen, die in Separatistengebieten leben. „Das ist unfair“, sagt Ulyana nur.
Schützengräben wie 1917
Fast 10.000 Menschenleben hat der Krieg in der Ostukraine seit April 2014 gekostet, 2,5 Millionen sind geflüchtet und drei Millionen auf Hilfe angewiesen. Der Minsker Friedensprozess steckt fest in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Die Waffenruhe sei brüchig, heißt es immer. Das ist eine Untertreibung. „Wir haben vergangenes Jahr mehr als 300.000 Verletzungen des Waffenstillstands gezählt“, erklärt der Schweizer Alexander Hug gegenüber der „Presse“. Er ist der Vize-Chef der 700 OSZE-Beobachter, die sich in der Ukraine aufhalten. Die Fronten verschieben sich kaum mehr, geschossen wird immer noch. Erst neulich traf wieder eine tödliche Kugel einen Buben. „Die militärische Situation ist statischer geworden. Entlang der Kontaktlinie sind Schützengräben zu sehen wie im Ersten Weltkrieg.“
Auch er und sein Chef, der türkische Vorsitzende der OSZE-Beobachtermission, Ertugrul Apakan, klammern sich an eine Politik der kleinen Schritte. Zwangsläufig. Apakan sitzt am Tisch der Trilateralen Kontaktgruppe, die sich regelmäßig in Minsk trifft, um den nach der weißrussischen Hauptstadt benannten Friedensprozess voranzutreiben. Die Ukraine ist durch Ex-Präsident Leonid Kutschma vertreten, Russland durch Ex-Innenminister Boris Gryslow und die OSZE seit Längerem schon durch einen österreichischen Spitzendiplomaten, Martin Sajdik, der Kurz auf seiner Reise begleitet. Die Verhandler müssen mit großer Geduld gesegnet sein. Denn Fortschritte sind nur unter der Lupe zu erkennen. Alles hängt fest: Die Ukraine fürchtet um ihre territoriale Einheit, die versprochenen Lokalwahlen und die Dezentralisierung will die Regierung in Kiew erst vorantreiben, wenn sie ihre Grenze zu Russland endlich wieder unter Kontrolle hat.
Dreh- und Angelpunkt des Denkens der OSZE-Beobachter ist die Waffenruhe, die sie ausbauen und stabilisieren wollen. Kurz verleiht ihrer Forderung in Kiew eine Stimme: „Unser oberstes Ziel ist es, einen nachhaltigen Waffenstillstand herzustellen, den Abzug der schweren Waffen einzuleiten und die Truppen zu entflechten.“ Es sei entscheidend, die OSZE-Mission zu stärken, zu erweitern und technisch auszurüsten. Die Beobachter müssten freien Zugang im Donbass haben. Da hakt auch Klimkin ein. Derzeit habe die OSZE keinen Zutritt zu Gebieten, wo sich russische Waffen und Truppen befänden. Sie kontrolliere auch nicht jene Teile der ukrainisch-russischen Grenze, über die Russland Munition, Waffen und Söldner schicke.
Via Warschau nach Moskau
Poroschenko und Klimkin schlagen im Gespräch mit dem österreichischen Außenminister neuerlich vor, die OSZE-Mission im Donbass in eine bewaffnete Polizeitruppe umzuwandeln. „Für die Abhaltung von Wahlen wäre eine bewaffnete Mission der OSZE nötig“, sagt Klimkin. Wie Frank-Walter Steinmeier, sein deutscher Vorgänger als OSZE-Vorsitzender, möchte Kurz ein Zug-um-Zug-Prinzip in der EU durchsetzen, ein positives Anreizsystem. Wenn Moskau einlenkt, soll es dafür mit einer Lockerung der Strafmaßnahmen belohnt werden. Kurz möchte „auf beide Seiten zugehen“: „Frieden auf unserem Kontinent kann es nur mit und nicht gegen Russland geben.“
Noch am Dienstag flog Kurz zu seinem Amtskollegen Sergej Lawrow nach Russland weiter. Über einen Zwischenstopp in Warschau. Zwischen Kiew und Moskau, den Hauptstädten der ehemaligen sowjetischen „Brüdervölker“, existiert keine Direktverbindung mehr.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2017)