Steinmeier startet mit überraschend harscher Rüge für Erdoğan

Deutschlands Präsident Frank-Walter Steinmeier: „Präsident Erdoğan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben!“
Deutschlands Präsident Frank-Walter Steinmeier: „Präsident Erdoğan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben!“ (c) APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ
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„Geben Sie Deniz Yücel frei“, forderte Deutschlands neuer Staatschef in seiner Antrittsrede.

Berlin. Zu den Vorzügen des Amts des Bundespräsidenten zählt, dass sich klare Festlegungen vermeiden lassen. Man darf ins Unreine sprechen, mit dem Verweis, dass der Staatschef über den Niederungen der Tagespolitik zu thronen habe.Und Frank-Walter Steinmeier hatte schon als Außenminister einen Hang zur diplomatischen Floskel.

Am Mittwoch aber überraschte der soeben vereidigte zwölfte deutsche Bundespräsident: Ganz absichtsvoll stellte Steinmeier die Türkei an den Beginn seiner Antrittsrede im Bundestag: Zunächst würdigte er noch Erdoğans erste Jahre, die Annäherung an Europa, den Wirtschaftsaufschwung. Es war die Ouvertüre für eine scharf formulierte Kritik: „Präsident Erdoğan, Sie gefährden all das, was Sie mit anderen aufgebaut haben!“, sagte Steinmeier mit fester Stimme. „Beenden Sie die unsäglichen Nazi-Vergleiche.“ Und zum Schluss: „Geben Sie Deniz Yücel frei!“ Applaus im Bundestag.

Steinmeiers Rede ist noch nicht zu Ende, als die nächsten Agenturmeldungen aus Ankara über die Bildschirme jagen. Der türkische Präsident hat Yücel, den in U-Haft sitzenden, deutsch-türkischen Journalisten erneut einen Terroristen und Agenten genannt und dessen Berufskollegen im Gefängnis als Kinderschänder und Diebe diffamiert. Und Erdoğan formulierte eine Drohung an Europa: „Wenn es seinen Weg so fortsetzt, kann sich kein Europäer in irgendeinem Teil der Welt mehr sicher auf der Straße bewegen.“

Die Türkei-Frage wird Steinmeier durch seine Zeit im Schloss Bellevue begleiten, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, in den er am Sonntag übersiedelt war – der Höhepunkt einer bemerkenswerten Karriere des Tischlersohns aus dem westfälischen Dorf Brakelsiek, dessen Aufstieg als rechte Hand Gerhard Schröders begonnen hatte. Heute zählt Steinmeier zu den beliebtesten Politikern Deutschlands. Auch als Privatmann bewegte er die Deutschen, als er 2010 seiner Frau Elke Büdenbender eine Niere spendete. Als Steinmeier seine Rede hält, sitzt sie vor ihm, die neue First Lady und Verwaltungsjuristin. Trotz aller Popularität Steinmeiers gab es aber immer Zweifel, ob der Fädenzieher im Hintergrund, der Mitarchitekt der Agenda 2010, in der ersten Reihe stehen kann. Als SPD-Spitzenkandidat war er 2009 gescheitert. Zu den mitreißenderen Rednern zählt er nie. Und der Präsident schöpft seine Wirkmacht zuallererst aus dem gesprochenen Wort.

Am Mittwoch nun trägt Steinmeier unter der Reichstagskuppel viel Pathos auf. Er zeichnet eine Welt aus den Fugen und ein Europa, in das eine "neue Faszination der Autoritären“ tief eingedrungen sei: „Wir müssen über die Demokratie nicht nur reden – wir müssen wieder lernen für sie zu streiten.“ Für seine Amtszeit hat sich der 61-Jährige, ähnlich wie Gauck, die Rolle des Mutmachers zurechtgelegt: „Mut ist das Lebenselixier von Demokratie. So wie die Angst der Antrieb von Diktatur ist“, sagt er. Und dieser Mut verlange auch „zu sagen was ist und was zu tun ist“. Steinmeier nennt die Integrationsfrage, das Dorfsterben, aber auch wirtschaftsethische Fragen, die Debatte um Bonuszahlungen. „Der Bundespräsident hat zu alldem keine Vorschläge zu machen“, sagt er zwar und doch klingt durch, dass er seine Rolle näher an der Tagespolitik auslegen könnte.

Spitze gegen Angela Merkel

Eine Spitze gegen Merkel gibt es auch, als Steinmeier erklärt. die Zukunft sei „nicht alternativlos“. Steinmeier will künftig weniger große Reden halten und mehr Bürgerkontakt suchen, in einer Tradition mit Gustav Heinemann sozusagen, dem „Bürgerpräsidenten“ und ersten SPD-Mann im höchsten Staatsamt, wie Steinmeier Jurist. Ob ihm diese Rolle behagt, ist ungewiss. Gestern kündigte er aber eine Tour durch die Bundesländer an: zu Kommunalpolitikern etwa und denen, „die in Kindergärten vorlesen oder Hospiz-Sterbende begleiten.“ Steinmeiers am Mittwoch gewürdigter Vorgänger Gauck hatte ihm zuvor einen Rat gegeben: „Fürchten Sie sich nicht vor den Trollen im Internet.“ Und „Gottvertrauen“ schade auch nicht, so der Pastor in Richtung seines protestantischen Nachfolgers. Steinmeier legte seinen Eid mit dem Zusatz ab: „So wahr mir Gott helfe.“ [ imago/Popow ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.03.2017)

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