Angriff auf die Hauptstadt des IS

Nur noch 20 Kilometer bis zur politischen Hauptstadt des „Kalifats“. Kämpfer der SDF marschieren in Syrien vor der Hochburg der IS-Extremisten auf.
Nur noch 20 Kilometer bis zur politischen Hauptstadt des „Kalifats“. Kämpfer der SDF marschieren in Syrien vor der Hochburg der IS-Extremisten auf.(c) Sebastian Backhaus
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In Syrien rücken kurdische und arabische Kämpfer der multiethnischen Militärallianz SDF auf Raqqa vor. Sie wollen die Hauptstadt der IS-Extremisten einnehmen, um das „Kalifat“ endgültig zu zerschlagen. Eine Reportage von der Front.

Die Hühnerfarm liegt völlig abgelegen, mitten in der syrischen Wüste. Oft weisen nur Reifenspuren auf holprigen Pisten den Weg durch die schier endlose Weite aus Sand und Steinen. In den vier mit weißen Plastikplanen abgedeckten langen Hallen gackert normalerweise das Federvieh. Jetzt stehen dort Militärfahrzeuge. Soldaten laufen über das Gelände, das rund 50 Kilometer nordöstlich von Raqqa (Rakka) liegt, der „Hauptstadt“ des Islamischen Staates (IS). Die Hühnerfarm dient als Befehls- und Planungszentrum der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die die IS-Hochburg von Osten her angreifen. „Die Amerikaner sind auch hier“, sagt Haval Darwisch, einer der beiden Oberkommandierenden der Operation. Er deutet dabei auf ein erst kürzlich neu gebautes, einstöckiges Haus am Ende des Grundstücks. Einige US-Soldaten stehen dort auf dem Balkon. Auf dem Dach sind eine ganze Reihe von Antennen und Satellitenschüsseln installiert. An Öffentlichkeit ist man nicht interessiert. „Gehen Sie weg!“, heißt es barsch.

„Wir koordinieren mit den Amerikanern die Offensive entlang des Flusses Euphrat“, erklärt der SDF-Kommandeur fast schon lapidar, als sei die Beteiligung des Pentagons im Kampf gegen den IS eine Selbstverständlichkeit. Dabei werden die SDF erst seit Amtseinführung Donald Trumps ausreichend mit Waffen und sogar Bodentruppen unterstützt. Unter Barak Obama hatte es nur zögerliche Hilfe für die multiethnische Militärallianz in Nordsyrien gegeben, die sich aus Kurden, Arabern, Assyrern und Turkmenen zusammensetzt.

Der IS ist umzingelt. Es sollen rund 4000 IS-Kämpfer sein, die in Raqqa von allen Seiten eingeschlossen sind. Im Norden stehen die SDF fünf Kilometer vor der Stadt. Im Westen wurde die Straße nach Aleppo in einer spektakulären Luftlandeoperation von US-Armee und SDF hinter feindlichen Linien gekappt. Der Militärflughafen von Tabqa ist bereits erobert.

„Im Osten konnten wir nun die letzte Verbindung des IS mit der Außenwelt unterbrechen“, meint Darwisch zufrieden. Auf die Frage, wann Raqqa endlich erobert werde, reagiert er ausweichend. „Das kommt auf den Widerstand des IS an.“ Es werde noch Wochen dauern, bis die SDF-Truppen von allen Seiten die Stadtgrenzen erreichten und der eigentliche Angriff beginnen könne.

Von der Hühnerfarm bis an die Front ist es keine Fahrtstunde. Kaum kommt der Euphrat in Sicht, verwandelt sich die karge Wüste in eine tiefgrüne Landschaft. Klares Wasser läuft in Bewässerungsgräben durch die Felder, auf denen Getreide und Gemüse wachsen. Bauern jäten Unkraut, Schafhirten weiden ihre Herden. Ein Idyll, mit dem es allerdings vorbei ist, als beim Ort Dschessra die Straße nach Raqqa erreicht ist. Dort sind zwar noch alle Geschäfte offen. Unzählige Motorradfahrer sind unterwegs, die mit ihren Jamdans, weiß-roten Tüchern, und dem schwarzen Adul-Ring auf dem Kopfals Araber zu erkennen sind. Aber in den sich scheinbar endlos dahinziehenden, schmucklosen Dörfern sind viele Häuser zerstört. Vor vier Tagen hatte hier noch der IS geherrscht, bevor der SDF das Gebiet befreite.

„Es war ein Katz- und Mausspiel“, erzählt Frad, ein SDF-Soldat an einem Militärposten in al-Karama. „Sie kamen aus Tunneln, haben sich als Zivilisten verkleidet und Hinterhalte gelegt“, berichtet der junge Mann, der eigentlich in Schweden lebt. Wegen seiner syrisch-kurdischen Wurzeln ist er, wie er sagt, in sein Heimatland zurückgekommen, um gegen den IS zu kämpfen. „Ich helfe als Soldat, Sanitäter und Übersetzer“, fügt er sichtlich stolz hinzu. Auf dem Dach des Postens steht Haval Argesh, ein 25 Jahre alter Frontkommandeur. Er war mit seiner Gruppe am Angriff auf al-Karama beteiligt. „Wir haben den Ort in zwei Tagen erobert“, sagt er. Er ist in Siegerlaune. In der einen Hand hält er ein Funkgerät, ein zweites steckt in der Brusttasche seiner Uniform. In der Ferne donnert eine Explosion, Schüsse fallen. Argesh zuckt nicht mit der Wimper. „Wenn Sie weiterfahren, dann passen Sie auf die Minen auf, die der IS überall gelegt hat.“

Von nun an sind alle Dörfer menschenleer. Es herrscht eine gespenstische Stille. Neben einer völlig zerbombten Busstation steht noch ein Portal, auf dem „Islamischer Staat Raqqa, Ostsektion“ zu lesen ist. Auf der gegenüberliegenden Seite überlebte ein IS-Plakat, das jemand vergeblich anzuzünden versuchte. Neben dem runden IS-Emblem steht dort die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis, sowie die Aufschrift „Das Kalifat nach den Grundsätzen des Propheten“. Aber dieser ganze Jihadistenhumbug hat jetzt endgültig ausgedient.

Heckenschützen der Extremisten. Kurz danach ist die Straße durch einen Erdwall gesperrt. Hier geht es nicht mehr weiter. Nach Raqqa fehlen nur noch 15 Kilometer. „Gleich hinter der Absperrung sind die Terroristen“, sagen zwei SDF-Soldaten, die auf einem Sandhügel Wache halten. Seit drei Tagen habe es zwar keine direkten Auseinandersetzungen mehr gegeben, berichten die jungen Männer. „Aber der IS versucht immer nachts mit drei, vier Leuten hinter unsere Linien zu kommen“, erzählen sie. Bisher hätten sie das allerdings jedes Mal verhindern können.

Untertags schießen die IS-Kämpfer mit der Duschka – dem schweren MG. „Dazu kommen Heckenschützen“, meint Orhan, der wie sein Kamerad einen kurdischen Namen trägt. Dabei sind beide arabischer Herkunft und gehören zum Stamm der Baghari. Sie haben sich der Kurdenmiliz YPG angeschlossen, die Teil des SDF ist, und bei der jeder einen neuen Kampfnamen erhält. Orhan ist erst vor 15 Tagen aus der syrischen Armee desertiert. Sein Kamerad ist nach neun Monaten Militärdienst direkt zur YPG gegangen, um gegen den IS zu kämpfen.

Die beiden jungen Männer hätten sich auch arabischen Einheiten anschließen können. Bei der Gründung des SDF im Oktober 2015 dominierten noch die kurdischen Kämpfer der YPG. Heute soll das ganz anders sein, wie Generalleutnant Stephen Townsend, der Kommandeur der US-Truppen im Kampf gegen den IS, Anfang März bekannt gab. Von den insgesamt rund 50.000 Kämpfern des ethnisch übergreifenden Militärbündnisses sollen allein 23.000 arabischer Herkunft sein und gehören der Syrisch-Arabischen Koalition an. Mindestens 13.000 dieser Kämpfer wurden vom Pentagon trainiert und ausgerüstet. Raqqa, mit überwiegend arabischer Bevölkerung, soll möglichst von Arabern zurückerobert werden. So will Washington ethnisch-religiöse Konflikte vermeiden.

Planen für die Zukunft. Im Hof der Hühnerfarm hat es sich Leila Mustafa auf einem großen Stein bequem gemacht. Sie ist eine von zwei Präsidenten des 80-köpfigen Raqqa-Zivilrats, der sich hier gerade getroffen hat. „Wir bereiten uns auf die Übernahme der Stadtverwaltung vor“, sagt die 28-jährige Bauingenieurin. Die Militäroperation ist längst nicht abgeschlossen, schon wird an der Zukunft gearbeitet. Der Raqqa-Zivilrat folgt dem Modell von Tal Abyad und Manbij, zwei Städten, aus denen der IS schon vertrieben wurde. Dort haben Zivilräte die Verwaltung übernommen. „Unser Rat wird noch größer werden, denn viele zukünftige Mitglieder leben noch in Raqqa.“ Alle könnten am Rat teilnehmen, außer diejenigen, die beim IS waren und Blut an den Händen haben. „Man muss den Menschen vergeben“, betont Mustafa mit Nachdruck. „Denn wir brauchen in Syrien nichts inständiger als eine friedliche Zukunft.“ ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2017)

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