Eine gespaltene Türkei geht in eine ungewisse Zukunft

Anhänger Erdogans feiern in den Straßen Istanbuls
Anhänger Erdogans feiern in den Straßen IstanbulsAPA/AFP/BULENT KILIC
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Die Opposition fordert die Annullierung des Referendums von Sonntag. Der Ausnahmezustand soll erneut verlängert werden. Die Abstimmung hinterlässt ein zerrissenes Land. Eine Analyse.

Jubel brauste auf, als Recep Tayyip Erdogan vor seine Anhänger trat. "Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hat die Türkei mit dem Willen des Parlaments und ihres Volkes eine so wichtige Veränderung beschlossen", rief der Präsident bei seinem Auftritt. Er verkündete seinen Sieg bei dem Referendum am Sonntag - bei der Abstimmung über eine neue Verfassung, die dem türkischen Staatsoberhaupt weit mehr Macht einräumen soll als bisher.

51,4 Prozent erhielt das Ja-Lager nach vorläufigen Auszählungsergebnissen. 48,6 Prozent der Türken lehnten dagegen die umstrittenen Verfassungsänderungen ab. Das genaue Resultat der Abstimmung werde erst in zehn bis zwölf Tagen veröffentlicht werden. Erdogan sprach in der Rede vor seinen Anhängern auch noch ein anderes umstrittenes Thema an: die Einführung der Todesstrafe. Auch darüber könnte nun noch ein Referendum abgehalten werden, sagte der Staatschef.

Beobachter kritisieren Wahlkampfbedingungen

Die internationale Wahlbeobachtermission kritisiert ungleiche Bedingungen für Befürworter und Gegner des Präsidialsystems. Durch die späte Änderung der Abstimmungsregeln seien zudem wichtige "Schutzvorkehrungen" beseitigt worden, kritisierten die Wahlbeobachter des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Ankara.

Die türkische Regierung hat die Kritik als "inakzeptabel" zurückgewiesen. Das Außenministerium in Ankara erklärte am Montag, die Einschätzung der Beobachter spiegle eine "parteiische und befangene Herangehensweise" wider.

Noch kurz vor der Abstimmung am Sonntag waren Gegner eingeschüchtert worden: Lange Zeit hatte Ali Bayramoglu der türkischen Regierung die Stange gehalten. Als einer der bekanntesten Journalisten der Türkei verteidigte er die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan auch noch, als andere längst von autokratischen Tendenzen des Staatschefs sprachen.

Vor einiger Zeit sagte sich Bayramoglu schließlich von Erdogan los und kündigte öffentlich an, beim Verfassungsreferendum über die Einführung des von Erdogan gewünschten Präsidialsystems mit Nein zu stimmen. Die Quittung erhielt der Journalist am Sonntag bei der Stimmabgabe in einer Grundschule in Istanbul: Bayramoglu wurde von Erdogan-Anhängern verprügelt.

Das Wahlergebnis im Überblick.
Das Wahlergebnis im Überblick.APA

Was ihm widerfahren sei, könne als Symbol für die Lage des Landes insgesamt verstanden werden, sagte Bayromaoglu später. Erdogan und seine Regierungspartei AKP herrschten mit eiserner Faust, Widerstand werde nicht geduldet, lautet seine Schlussfolgerung. Das Ergebnis des Referendums lässt Bayramoglu und andere befürchten, dass jetzt eine Zeit anbricht, in der staatlicher Druck auf Andersdenkende zum Bestandteil der Staatsräson wird.

Größte Machtfülle für einen Politiker seit Atatürk

Die Volksabstimmung hat die Spaltung der Türkei demonstriert. Nur mit bestenfalls knapp mehr als der Hälfte der Stimmen geht Erdogan nun an den Umbau der Türkei von einer parlamentarischen Demokratie in eine Präsidialrepublik heran - in einen Staat, in dem Erdogan als Staatsoberhaupt möglicherweise bis 2029 mit weitreichenden Machtbefugnissen regieren kann.

Die größte Reform in der Türkei seit Errichtung der Republik im Jahr 1923 scheint perfekt – seit Staatsgründer Atatürk hat kein Politiker eine solche Machtfülle gehabt, die Erdogan bereits am Montag demonstrierte: Der Ausnahmezustand solle ein drittes Mal nach dem Putschversuch im vergangenen Juli verlängert werden, meldete der Sender CNN Türk. Als die Resultate nach Ende der Stimmabgabe einliefen, erklang aus den Kirchen der Istanbuler Innenstadt zufällig gerade das Glockengeläut zum Osterfest: Die christlichen Gotteshäuser läuteten damit gewissermaßen die neue türkische Republik ein.

Opposition spricht von Manipulationen

Doch die beiden größten Oppositionsparteien CHP und HDP kündigten bereits Widerstand an, "Schulter in Schulter gegen den Faschismus versammelten sich noch am Abend in Ankara und Istanbul Anhänger des Nein-Lagers. Ein Vertreter der säkularistischen CHP forderte am Montag die Annullierung des Referendums. "Es gibt nur eine Entscheidung, um im Rahmen des Gesetzes die Situation zu entspannen - die Hohe Wahlkommission sollte die Abstimmung annullieren", sagte der stellvertretende Vorsitzende der CHP, Bülent Tezcan.

Die CHP hatte zuvor ebenso wie die prokurdische HDP von einer "Manipulation" des Volksentscheids gesprochen und eine Neuauszählung eines Teils der Stimmzettel gefordert. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu hatte am Sonntagabend gesagt, die Wahlkommission habe "einen dunklen Schatten auf die Entscheidung des Volkes geworfen".

Aufruf zu Protesten

Denn die Wahlkommission hatte in einem umstrittenen Schritt entschieden, nicht offiziell zugelassene Stimmzettel als gültig zu akzeptieren, solange nicht bewiesen sei, dass sie von außerhalb in die Wahlkabine gebracht wurden. Dies sei eine Einladung zum Wahlbetrug. Die CHP legte Einspruch gegen die Ergebnisse in fast 40 Prozent der Wahllkokale ein. Dabei werde man bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehen. Dies ist nach Angaben unabhängiger Juristen jedoch nicht möglich.

Die Wahlkommission muss demnach nur vor sich selbst Rechenschaft ablegen und untersteht keiner anderen Behörde. Damit können die Entscheidungen der YSK grundsätzlich nicht vor Gerichten angefochten werden, weder vor nationalen wie dem türkischen Verfassungsgericht, noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Zwar könnte die YSK eigene Entscheidungen noch einmal überprüfen und der Forderung der Opposition nachkommen, das Referendum zu annullieren. Das ist jedoch höchst unwahrscheinlich.

Oppositionsgruppen haben am Montag zu Protesten in der Metropole Istanbul aufgerufen. Die Gegner des Präsidialsystems wollen sich am Montagabend unter anderem in den Stadtteilen, Besiktas, Kadiköy und Sariyer versammeln, wie mehrere zivilgesellschaftliche Gruppen auf Twitter mitteilten. Die Gruppe "Hayir Besiktas" (Nein Besiktas) schrieb etwa: "Wir sind hier gegen Betrügereien, Ungerechtigkeiten und gestohlene Stimmen!"

Kein strahlender Sieg für Erdogan

Erdogans neue Republik wird mit vielen Problemen zu kämpfen haben: Das Land ist im Innern zerrissen und in den Außenbeziehungen teilweise isoliert. Stabile Verhältnisse sind deshalb kaum zu erwarten. Vizepremier Veysel Kaynak räumte noch vor Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses ein, das Ja-Lager habe nicht die erhoffte Anzahl von Stimmen erhalten.

Dennoch hat Kaynak mit seiner Beobachtung recht. Einen strahlenden Erfolg konnte Erdogan am Sonntag nicht feiern – das Ergebnis war knapper als vielfach erwartet und könnte sich als Pyrrhus-Sieg für den 63-jährigen entpuppen. Zwischen dem Ja-Lager und den Gegnern der Reform lagen am Sonntag nur 1,3 Millionen Stimmen – in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern ist das eine sehr dünne Mehrheit. Die Wähler in den drei größten Städte des Landes mit zusammen 25 Millionen Menschen – Istanbul, Ankara und Izmir – lehnten Erdogans Reform ab.

Die Gräben sind tiefer geworden

Dieses Ausmaß des Widerwillens ist angesichts der Zustände im Land und dem Druck auf Erdogan-Gegner erstaunlich. Auch war die Opposition im Wahlkampf klar benachteiligt. Berichte über Unregelmäßigkeiten gab es aus allen Landesteilen. Laut Medienberichten wurden in einem Wahllokal in Südostanatolien rund 400 Stimmen abgeben – obwohl dort nur 360 Wähler gemeldet waren. Die Oppositionsparteien riefen ihre Wahlhelfer auf, die Auszählungen in ihren jeweiligen Wahllokalen bis zum Schluss zu verfolgen und mögliche Schummeleien zu melden.

Auch nach der Volksabstimmung bleibt die Türkei also ein gespaltenes Land. Die Gräben zwischen den Anhängern und den Gegnern des Präsidenten sind sogar noch tiefer geworden. Der Präsident hat im Wahlkampf nur wenig getan, um das Land zu einen. In einigen Wahlkampfreden bezeichnete er die Anhänger des Nein-Lagers als Terroristenhelfer.

Sieg durch Auslandstürken?

Möglicherweise verdankt Erdogan seinen Sieg den Auslandstürken, die mehrheitlich auf seiner Seite stehen und durch den Streit um die Auftrittsverbote für türkische Regierungspolitiker in der EU vor dem Referendum zusätzlich motiviert wurden.: In Österreich stimmten rund drei von vier türkischen Wählern für den Präsidenten. Sollte sich dies bestätigen, dürfte in Europa die Diskussion darüber beginnen, ob das Verhalten europäischer Politiker dem in der EU ungeliebten türkischen Präsidenten den Sieg ermöglicht hat.

Erdogan hat in den vergangenen Wochen viele Brücken zur EU abgebrochen. In einer seiner letzten Wahlkampfauftritte vor dem Referendum erneuerte er sein Versprechen, im Falle eines Sieges am Sonntag die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die politische Tagesordnung zu setzen. Das wäre das Ende der türkischen EU-Bewerbung. Angesichts des Dauerstreits der jüngsten Zeit werden viele in der EU erleichtert sein, wenn Erdogan die türkische Kandidatur beendet.

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