Die regierende AKP feiert sich als Siegerin des Verfassungsreferendums und stellt die Weichen zum Aufbau eines Präsidialsystems. Doch die wichtigsten Oppositionsparteien bekämpfen das offizielle Ergebnis.
Istanbul. Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, will sich nicht beirren lassen. Europäische Politiker zeigen sich über den Ausgang des Referendums, das ihm eine größere Machtfülle als bisher sichern soll, besorgt. Internationale Beobachter kritisieren, dass immer wieder gegen Prinzipien einer fairen Abstimmung verstoßen worden sei – eine Kritik, die Ankara umgehend als „inakzeptabel“ und parteiisch motiviert zurückwies. Die wichtigsten Oppositionsparteien weigern sich, das Resultat anzuerkennen. Trotzdem bleibt Erdoğan bei seinem Plan zur Umsetzung der von ihm angestrebten Verfassungsänderungen.
Bis zur Präsidentenwahl in zwei Jahren sei noch viel zu tun, sagte er am Montag in Ankara. Die nun geplante Verfassungsreform räumt ihm als Staatschef weitreichende Machtbefugnisse ein. Der Übergang zum Präsidialsystem soll mit der Neuwahl von Präsident und Parlament im Jahr 2019 vollendet werden; einige Änderungen sollen jedoch schon jetzt in Kraft treten.
Opposition will vor Verfassungsgericht
Erdoğan hat die Volksabstimmung über das von ihm angestrebte Präsidialsystem am Sonntag mit rund 51 Prozent der Stimmen gewonnen – zumindest laut den Angaben seiner Regierungspartei und der Wahlkommission. Die Opposition äußert jedoch Zweifel an Erdoğans Sieg. Der Abstand zwischen dem siegreichen Ja-Lager und den Gegnern des Präsidialsystems lag bei knapp 1,4 Millionen der fast 50 Millionen Stimmen. Die kemalistische Oppositionspartei CHP und die prokurdische HDP beklagen, dass rund 2,5 Millionen ungültige Stimmen gezählt worden seien.
Insbesondere eine am Sonntagabend getroffene Eilentscheidung der Wahlkommission in Ankara, auch Stimmzettel zu zählen, denen entgegen den gesetzlichen Vorschriften der Stempel des Leiters des jeweiligen Wahllokals fehlte, stieß auf Kritik: Damit werde der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Der stellvertretende CHP-Vorsitzende, Bülent Tezcan, sagte, nur eine Annullierung der Volksabstimmung könne die Debatte über deren Rechtmäßigkeit beenden. Die CHP will vor das Verfassungsgericht ziehen.
Kritik bei urbaner Bevölkerung wächst
Das knappe Ergebnis stellt bei Weitem nicht jene starke Unterstützung dar, die sich der 63-jährige Erdoğan gewünscht hätte. Nur unter Aufbietung undemokratischer Methoden hat er sich eine dünne Mehrheit für sein Vorhaben sichern können.
Besonders die wachsende urbane Bevölkerung in dem 80-Millionen-Staat hat sich Erdoğan verweigert – das könnte Folgen für künftige Wahlen haben. Statt eine Periode der Stabilität einzuläuten, markiert das Referendum den Beginn einer neuen Phase der Unsicherheit, die mindestens bis zur Präsidentschafts- und Parlamentswahl reichen dürfte.
Bei der Vorbereitung der Wahl von 2019 setzt Erdoğan erneut auf nationalistische Wähler. Nur wenige Stunden nach der Abstimmung vom Sonntag erklärte er, er wolle die Wiedereinführung der Todesstrafe falls nötig mit einem erneuten Referendum durchsetzen; dies wäre das Ende des EU-Beitrittsprozesses. Am Montag beklagte Erdoğan, die „westlichen Kreuzzügler“ sowie deren „Lakaien“ in der Türkei hätten ihn während des Wahlkampfs attackiert. „Aber wir sind nicht zurückgewichen.“
Regierung dürfte Druck erhöhen
Viel wird bis 2019 davon abhängen, ob Erdoğans Gegner einen Weg finden, sich zusammenzuraufen. Viele Blicke richten sich auf Meral Aksener, eine Ex-Innenministerin, die als Hoffnungsträgerin der Erdoğan-kritischen Nationalisten ein Gegengewicht zum übermächtigen Staatschef bilden könnte. Sollte es Aksener oder einem anderen Oppositionsvertreter gelingen, sich als Alternative zu empfehlen, stünde der Präsident 2019 vor einer großen Gefahr: Ausgerechnet in dem Moment, in dem das eigens für ihn erdachte Präsidialsystem in Kraft treten soll, könnte das Amt an einen anderen gehen.
Erdoğan und die AKP dürften deshalb den Druck auf Andersdenkende weiter erhöhen, um die Opposition schwach zu halten. Schon vor der Volksabstimmung kündigte der Präsident eine Verlängerung des Ausnahmezustands an, der seit dem gescheiterten Putsch im vergangenen Juli in Kraft ist.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.04.2017)