Großbritannien: Warum May in Neuwahlen zieht

Die britische Premierministerin, Theresa May, vor ihrem Statement am Dienstag in der Downing Street. Seit ihrem Amtsantritt im Juli 2016 hat sie Neuwahlen mehrfach dezidiert abgelehnt.
Die britische Premierministerin, Theresa May, vor ihrem Statement am Dienstag in der Downing Street. Seit ihrem Amtsantritt im Juli 2016 hat sie Neuwahlen mehrfach dezidiert abgelehnt.(c) APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS
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Die Briten sollen am 8. Juni über ein neues Parlament abstimmen. Die Regierungschefin begründet das mit den Brexit-Verhandlungen. Dahinter steht aber vor allem auch parteipolitisches Kalkül.

London. Die britische Premierministerin, Theresa May, will am 8. Juni ein neues Parlament wählen lassen. In einer völlig unerwarteten Stellungnahme an ihrem Regierungssitz in der Downing Street sagte May gestern, Dienstag, in London: „Was wir jetzt brauchen, ist Einigkeit, aber was wir stattdessen im Parlament haben, ist Spaltung.“ Für eine Auflösung des Unterhauses braucht die Regierung eine Zweidrittelmehrheit, wofür die oppositionelle Labour Party gestern bereits ihre Zustimmung signalisiert hat.

Großbritannien hatte zuletzt im Mai 2015 gewählt. Damals errangen die Konservativen unter David Cameron überraschend eine knappe absolute Mehrheit. In der Folge sah sich der Premierminister gezwungen, sein Versprechen einer EU-Volksabstimmung einzulösen. Diese erbrachte am 23. Juni 2016 eine Mehrheit für den Brexit. Cameron zog die Konsequenzen und trat zurück. May, seine Nachfolgerin, kam ohne Volksentscheid in das wichtigste politische Amt des Landes.

Deutliche Führung in Umfragen

Obwohl die Premierministerin ihren Neuwahlentschluss mit den Brexit-Verhandlungen begründet hat, steht dabei ganz offensichtlich parteipolitisches Kalkül im Vordergrund. Die Konservativen haben derzeit in Umfragen eine Mehrheit von bis zu 25 Prozentpunkten und können auf einen Erdrutschsieg über die Labour Party unter Jeremy Corbyn hoffen. Die gegenwärtige Parlamentsmehrheit von 17 Mandaten würden sie nach aktuellen Berechnungen in einen Vorsprung von 112 Sitzen verwandeln können.

Mit der kurzen Frist von weniger als zwei Monaten für die Neuwahlen macht May es der Opposition zudem fast unmöglich, einer schweren Schlappe zu entgehen. Für einen Wechsel an der Parteispitze fehlt die Zeit. Zugleich wird es Corbyn kaum möglich sein, seine Popularität entscheidend zu verbessern. Selbst unter den Labour-Wählern hat er mit 45 Prozent keine Mehrheit. Von den Briten insgesamt halten 47 Prozent May für die beste Wahl als Regierungschefin, während nur 14 Prozent Corbyn vertrauen.

Comeback der Liberaldemokraten?

Mit seinem dezidiert linken, basisorientierten Kurs hat der Labour-Chef in den vergangenen zwei Jahren zudem die Unterstützung der liberalen Mittelklasse verspielt, die einst Tony Blair und seiner „New Labour“ ihre Stimme geschenkt haben. Sie könnten heute den Liberaldemokraten zu einem Comeback verhelfen, die sich seit dem Brexit immer mehr zur Stimme der EU-freundlichen Briten machen konnten. Der Chef der Liberaldemokraten, Tim Farron, gab in einer ersten Reaktion am Dienstag bereits die Stoßrichtung vor: „Diese Wahl ist eure Chance, die Richtung unseres Landes zu ändern“, schrieb er auf Twitter.

Labour droht damit von zwei Seiten zerquetscht zu werden, während die Konservativen sich Hoffnung machen können, als strahlende Sieger aus der Wahl hervorzugehen. Für Mays Rechnung spricht auch, dass sich die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (Ukip) auf einem Tiefpunkt befindet. Statt die Regierung vor sich herzutreiben, ist die Partei seit dem Brexit vorwiegend mit Selbstzerfleischung beschäftigt. Viele Positionen von Ukip sind zudem unter May Regierungspolitik geworden, etwa in der Einwanderungsfrage.

Trotz drohenden Wahldesasters begrüßte Corbyn in einer ersten Stellungnahme die Entscheidung Mays: „Damit werden die Briten die Möglichkeit haben, eine klare Entscheidung zu treffen.“ In den Mittelpunkt der Wahlauseinandersetzung will er das staatliche Gesundheitswesen und Sozialabbau stellen, während der Brexit für Labour offenbar kein Thema mehr ist. Kritik übte Corbyn an Mays Ankündigung, sich keiner einzigen Fernsehkonfrontation stellen zu wollen.

Mit der Neuwahlentscheidung ging es May auch darum, sich als entschlussfreudige und durchschlagskräftige Politikerin zu profilieren. Unvergessen ist in der jüngeren britischen Geschichte das Versäumnis von Gordon Brown im Jahr 2007 nach der Übernahme des Premierministeramts von Tony Blair und einem Höhenflug in den Umfragen, Neuwahlen auszurufen. Fortan stand er als Zauderer in der Öffentlichkeit, von dem über ihn hereinbrechenden Spott und Hohn konnte er sich nie mehr erholen.

In Schottland, das gegen den Brexit gestimmt hatte, könnte ein haushoher Wahlsieg der Konservativen den Forderungen nach einem neuen Unabhängigkeitsreferendum weiteren Auftrieb verschaffen. Die schottische Regierungschefin, Nicola Sturgeon, warnte am Dienstag bereits, die Tories wollten Großbritannien nach rechts rücken und einen „harten Brexit“ durchsetzen. Es sei daher notwendig, sich nun besonders für die Belange Schottlands einzusetzen.

AUF EINEN BLICK

Großbritannienwählt voraussichtlich am 8. Juni ein neues Parlament. Premierministerin Theresa May hat am Dienstag überraschend Neuwahlen angekündigt. Sie vollzieht damit eine Kehrtwende: Bisher hat sie Neuwahlen stets eine Absage erteilt. Das Parlament muss noch zustimmen und soll dies bereits heute, Mittwoch, tun. Notwendig ist eine Zweidrittelmehrheit. Jeremy Corbyn, Labour-Vorsitzender und damit Chef der größten Oppositionspartei, hat Unterstützung zugesagt. May begründet den Schritt mit den Brexit-Verhandlungen, tatsächlich dürften sie aber vor allem auch die Umfragen dazu veranlasst haben: Die Konservativen führen mit haushohem Vorsprung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2017)

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