Für SPD und Erdoğan: Almanya rätselt über seine Türken

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Der Sieg des Ja-Lagers in Deutschland heizt die Integrationsdebatte an, zumal Wahlen anstehen.

Berlin. Im viertgrößten türkischen „Wahlbezirk“ nach Istanbul, Izmir und Ankara, also in Deutschland, beugt man sich irritiert über das Ergebnis des Referendums. 63 Prozent stimmten in der Bundesrepublik für das umstrittene Präsidialsystem nach dem Gusto von Recep Tayyip Erdoğan. In Essen waren es sogar 75 Prozent. Deutschland-Rekord. Der Oberbürgermeister der Stadt, Thomas Kufen (CDU), reagierte mit Bestürzung: „Ich habe das Gefühl, wir Deutsche und Türken leben in einem Haus und verstehen uns zunehmend weniger“, sagte er der „Bild“-Zeitung.

Kufen empörte sich über Deutschtürken, die „von ihrer bequemen Wohnzimmercouch aus“ im liberalen Deutschland ein autokratisches System für die Tausende Kilometer entfernte Türkei erwählten. So würde das seine Parteichefin, Angela Merkel, zwar nie formulieren. Aber die Integrationsdebatte ist neu entbrannt. „Demokratie genießen, aber einen Despoten wählen“, ätzte die „Bild“-Zeitung.

Aus heiterem Himmel kam das Ergebnis nicht: 60 Prozent hatten 2015 für Erdoğans AKP gestimmt, nun waren 63,1 Prozent. Seit Sonntag werden diese Zahlen gedreht und gewendet. „Unterm Strich haben nur etwa 14 Prozent aller hier lebenden Deutschtürken mit Ja gestimmt. Das ist klar nicht die Mehrheit“, beschwichtigte etwa Integrationsministerin Bilkay Öney, SPD. Die Rechnung geht so: In der Bundesrepublik leben 2,9 Millionen Deutschtürken, die Hälfte davon durfte gar nicht abstimmen. Weil sie nur den deutschen Pass hat, und vom Rest gingen nur 46 Prozent zur Wahl.

Der protestierende Gastarbeiter

Aber es bleiben eben 440.000 Menschen, die im liberalen Deutschland für Erdoğans Autokratie stimmten. Warum eigentlich? Zum einen, weil Erdoğans Botschaften im Milieu der Gastarbeiter verfangen, die idealtypisch als konservativ-religiös, ländlich und bildungsfern beschrieben werden. Der Vorsitzende der türkischen Gemeinde, Gökay Sofuoğlu, wähnte zudem eine gefühlte Ausgrenzung in Deutschland hinter dem Ergebnis: Die Wähler wollten demnach „Protest zum Ausdruck bringen gegen das, was sie seit Jahrzehnten aus ihrer Sicht hier empfinden“, sagte Sofuoğlu dem SWR. Die Verbundenheit der Türken mit Deutschland nimmt jedenfalls ab (siehe Interview unten). Ein Grund für Erdoğans Wahlsieg residiert zudem in Köln. Die finanzstarke Union Europäisch-Türkischer Demokraten, UETD, organisierte von der Domstadt aus Wahlkämpfe in Europa und Busse zu den Abstimmungslokalen.

Die UETD hatte übrigens vor einigen Jahren erhoben, welche Parteien Deutschtürken wählen. Es wäre ein anderes Deutschland, mit einer Zweidrittelmehrheit für die SPD. Und mageren sieben Prozent für die CDU.

Rot-Grün hatte die doppelte Staatsbürgerschaft 2002 eingeführt, in der Großen Koalition wurde sie ausgeweitet. Nun, im Vorwahlkampf, will die Union diese Erleichterungen wieder einkassieren. Seit Sonntag gewinnt der Streit an Schärfe. „Ich halte es für wichtig, dass wir in der nächsten Legislaturperiode die Erleichterungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft wieder rückgängig machen“, sagte der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer, der „Welt“.

Und: „Es gibt offensichtlich unter den Deutschtürken diejenigen, die glauben, es reicht aus, wenn man nur mit den Zehenspitzen auf dem Grundgesetz steht.“ Nicht nur ihre Partei, sondern auch Angela Merkel selbst ist in diesen Tagen bemüht, ihr Sicherheitsprofil zu schärfen. Die Abschaffung des Doppelpasses hatte sie zwar abgelehnt. Als Kompromiss bahnt sich aber ein Generationenschnitt an.

Merkels Drahtseilakt zwischen Berlin und Ankara ist seit Sonntag jedenfalls noch einmal schwieriger geworden. Auf der einen Seite die strategisch wichtige Türkei, ein Nato-Partner, mit dem die Kanzlerin den Flüchtlingsdeal eingefädelt hat, andererseits ein Wahlvolk, das Umfragen zufolge eine klare Kante in der Türkei-Politik vermisst. Nach dem Referendum gab es eine gemeinsame Erklärung mit Außenminister Sigmar Gabriel (SPD), die aber sehr zurückhaltend formuliert war. Allerdings türmen sich in den deutsch-türkischen Beziehungen die Probleme: die Affäre um spitzelnde Imame, die Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel, Erdoğans Nazi-Vergleiche und nun auch noch ein Referendum, dessen Ergebnis die Bundesrepublik irritiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2017)

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