Venezuela: Mit Tränengas feiert das Regime die Revolution

Konfrontation zwischen Regierungseinheiten und Demonstranten in Caracas, die den Tränengasattacken trotzten. In der Hauptstadt Venezuelas zogen mehr als 100.000 Gegner des Präsidenten Nicolas Maduro durch die Straßen.
Konfrontation zwischen Regierungseinheiten und Demonstranten in Caracas, die den Tränengasattacken trotzten. In der Hauptstadt Venezuelas zogen mehr als 100.000 Gegner des Präsidenten Nicolas Maduro durch die Straßen.(c) REUTERS (CHRISTIAN VERON)
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Präsident Nicolás Maduro versammelte seine Anhänger, während die Armee in der Hauptstadt Caracas brutal gegen die Demonstranten vorging.

Buenos Aires/Caracas. Es war ein Fest. Im roten Hemd, die Reihen geschlossen, standen die Prätorianer der bolivarischen Revolution Spalier, als Nicolás Maduro jenes „ruhmreiche Volk“ pries, das sich zu dieser „beeindruckenden Demonstration“ im Stadtzentrum von Caracas versammelt hatte. Die „rote Flut“ aus überzeugten Revolutionsanhängern und zwangsverpflichteten Staatsdienern füllte die überbreite Plaza Bolívar und spendete artig Beifall für die Verbalkanonade ihres – zumindest körperlich – großen Vorsitzenden. Im Fernsehen war live zu verfolgen, wie Maduro und mehrere Minister gar mit einem Tänzchen einen „neuen Triumph“ begingen an diesem nationalen Feiertag. Genau 207 Jahre zuvor hatte Venezuelas Unabhängigkeitskampf begonnen.

Derweil versank die Stadt – ausgeblendet von sämtlichen TV-Kanälen – nur wenige Kilometer östlich im Reiznebel aus Gaskartuschen. Mehr als 100.000 Menschen marschierten Richtung Zentrum, bis die Staatsmacht mit Hubschraubern, Wasserwerfern und Schützenpanzern anrückte. Handy-Fotos und -Videos dokumentierten das brutale Vorgehen von Polizei und Nationalgarde, auch gegen ältere Demonstranten und Frauen. Viele junge Regimegegner trugen Helme und Gasmasken, auch Lilian Tintori. Die Frau des seit 2014 inhaftierten Oppositionsführers Leopoldo López marschierte mit militärischer Schutzmaske für freie Wahlen, die Freilassung der politischen Gefangenen, die Einrichtung eines humanitären Korridors zur Versorgung des Landes mit Lebensmitteln und Medikamenten und das Ende der Entmachtung des Parlaments.

Maduros Motorradbanden

Ihr Eintreten für diese Forderungen bezahlten am Mittwoch zwei junge Menschen mit ihrem Leben. Der 17-jährige Carlos José Moreno starb in Caracas nach einem Kopfschuss, die 23-jährige Patricia Gutiérrez erlitt das gleiche Schicksal in San Cristóbal nahe der kolumbianischen Grenze. Laut Staatsanwaltschaft wurden beide von vorbeifahrenden Motorrädern aus erschossen. Im Verdacht stehen Mitglieder der „colectivos“, jener Banden, die für politische Schmutzarbeit Straffreiheit für ihre sonstigen Verbrechen zugestanden bekommen. Am Abend starb dann noch der 35-jährige Unteroffizier Niumar José Barrios, als seine Militäreinheit bei einer Straßensperre unter Beschuss genommen wurde.

Während die Strafverfolger versuchen, die Vorgänge zu rekonstruieren, hat der mächtige chavistische Hardliner Diosdado Cabello den Schuldigen schon gefunden: Er bezichtigte Oppositionsführer Henrique Capriles, hinter dem Beschuss zu stehen. Auch wenn Cabello keine Beweise liefern konnte, ist das für den kürzlich zu 15 Jahren Politikverbot verurteilten vormaligen Präsidentschaftskandidaten alarmierend. Denn Venezuelas Justiz ist längst nicht mehr als willfähriges Instrument eines autoritären Regimes. Capriles bedauerte in einer nächtlichen Erklärung den Tod des Soldaten und forderte seine Anhänger auf, kein Blut zu vergießen.

Während der Großveranstaltung vor seinen Anhängern überraschte Maduro mit seiner Behauptung, schnell Wahlen abhalten zu wollen. Tatsächlich hat der von den Chavisten kontrollierte nationale Wahlrat die eigentlich Ende des Vorjahres angesetzten Lokal- und Regionalwahlen auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Umfragen hatten vorausgesagt, dass die Regierung die Mehrzahl der Gouverneursämter verlieren würde. Die Sozialisten regieren in 21 der 24 Bundesstaaten. „Ich will bald an die Urnen, um einen realen Triumph einzufahren“, dröhnte Maduro zum Erstaunen aller. Seine Zustimmungsrate liegt derzeit weit unter 30 Prozent. Beobachter vermuten, dass Maduro mit dem Versprechen freier Wahlen erneut den Schwung des rissigen Oppositionsbündnisses MUD bremsen will, wie es ihm schon in der Vergangenheit immer wieder gelang. Angesichts der Zuspitzung scheint dies aber fraglich. Seit Beginn der neuen Protestwelle verloren acht Menschen ihr Leben. Allein am Mittwoch wurden nach Angaben einer regierungskritischen NGO mehr als 500 Demonstranten festgenommen.

Machtzentrum Militär

Wie weit der „Triumph“ dem auch im eigenen Lager umstrittenen Maduro hilft, ist indes unklar. Traditionell liegt das Machtzentrum in Venezuela in den Kommandozentralen der Militärs. Maduro machte den Offizieren massive Zugeständnisse und erlaubte ihnen generöse Zusatzeinnahmen mit der Verteilung der raren Lebensmittel. Außerdem gibt es Indizien für eine Verwicklung hoher Offiziere in den organisierten Drogenhandel.

Die US-Justiz sucht etwa den Innenminister, Néstor Riverol, wegen Beteiligung am Rauschgiftschmuggel im großen Stil. Viele hohe Militärs müssen im Falle eines Systemwechsels fürchten, den Rest ihres Lebens in einem US-Gefängnis zu verbringen und stützen deswegen das wankende Regime.

Was Maduro bisher nicht öffentlich kommentierte, ist der Zugriff staatlicher Organe auf das Werk des Autobauers GM in der Industriestadt Valencia. Der US-Konzern beschuldigte die Behörden, die seit Monaten durch das Devisenchaos gelähmte Fabrik am Mittwoch widerrechtlich übernommen und erhebliche Unternehmensteile, darunter auch eine große Zahl an neuen Fahrzeugen, konfisziert zu haben. General Motors, seit 72 Jahren in Venezuela aktiv, hat das Ende sämtlicher Geschäfte in Venezuela verkündet. Fast 2700 Beschäftigte dürften dadurch ihre Arbeit verlieren.

AUF EINEN BLICK

Venezuela steht an der Kippe, nachdem Massenproteste der vergangenen Tage in Caracas und anderen Städten eskalierten und es Tote gegeben hat. Mindestens zwei Demonstranten wurden von regimetreuen Milizionären von Motorrädern aus erschossen, ein Soldat starb an einer Straßensperre, als diese beschossen wurde. Das revolutionäre „bolivarische“ Regime unter Präsident Nicolás Maduro (seit 2013) hat das an sich reiche Ölland komplett heruntergewirtschaftet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2017)

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