Brasilien: Präsident setzt Militär gegen Demonstranten ein

Gewaltsame Proteste gegen Präsident Michel Temer: Einige Demonstranten setzten offizielle Gebäude in Brand.
Gewaltsame Proteste gegen Präsident Michel Temer: Einige Demonstranten setzten offizielle Gebäude in Brand.(c) APA/AFP/ANDRESSA ANHOLETE (ANDRESSA ANHOLETE)
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Die Proteste gegen Temer sind außer Kontrolle geraten. Demonstranten zündeten Ministerien an. Der in Bedrängnis geratene Staatschef denkt nicht an Rücktritt.

Brasília/Buenos Aires.Brasília, einst in Stein gebaute Vision für ein prosperierendes Brasilien, versank am Mittwoch in Rauch und im Schall von Polizeisirenen. Während im Kongress die Parlamentarier tagten, demonstrierten auf der überbreiten Esplanada etwa 50.000 Menschen für einen sofortigen Abtritt des korruptionsverdächtigen Präsidenten Michel Temer, forderten Neuwahlen und ein Ende der Sparpolitik von Temers liberaler Regierung. Als die lange friedliche Demonstration sich ihrem Ende zuneigte, begann eine radikale Gruppe, die beidseits der Esplanade aufgereihten Ministerien in Brand zu setzen sowie Barrikaden zu errichten, die der Feuerwehr den Zugang erschwerten. Insgesamt sieben Gebäude wurden beschädigt. Die Gewaltserie begann im Landwirtschaftsministerium, dem die Demonstranten eine Schlüsselrolle für die Beschleunigung der Abholzung von Tropenwäldern zuweisen. Der Amtsinhaber Blairo Maggi ist nicht nur von der Generalstaatsanwaltschaft der Korruption verdächtigt worden, er ist auch einer der größten Sojaproduzenten Brasiliens.

Temer reagierte auf die Unruhen mit einer extremen Maßnahme: Er beorderte 1500 Soldaten auf die Esplanade zu seinem Schutz, um „Recht und Ordnung zu garantieren“. Obwohl dieser Schritt wohl im Rahmen der Verfassung steht, sorgten die Uniformierten vor allem links der politischen Mitte für Entsetzen. „Das ist sehr ernst“, schimpfte Carlos Zarattini, Abgeordneter der Arbeiterpartei PT. „Nach seiner politischen und persönlichen Demütigung will dieser Präsident offenbar dem Land eine Diktatur aufzwängen. Eine Regierung, die keine Demonstration durchsteht, ist nicht imstande, weiterzuregieren.“ Die Arbeiterpartei, Gewerkschaften und soziale Bewegungen wie jene der Landlosen sind nun fest entschlossen, den Druck auf den Straßen zu erhöhen. Denn um ihre Forderung nach Neuwahlen durchzusetzen, müsste die Verfassung umgeschrieben werden. Dazu wären die Abgeordneten – mehr als die Hälfte davon hat Probleme mit der Justiz und kein Interesse am Verlust ihrer Immunität – wohl nur bereit, wenn eine große Mehrheit der Bevölkerung das von ihnen verlangt. Bislang gilt: Falls Temer fällt, muss eine Versammlung aus allen Mitgliedern des Kongresses und des Senats binnen 30 Tagen einen neuen Präsidenten bestimmen, der die Legislatur bis zu ihrem Ende am 31. Dezember 2018 führt.

„Sollen sie mich doch stürzen“

Die aktuelle Krise explodierte, nachdem vor einer Woche das Blatt „O Globo“ meldete, es existiere eine Audio-Datei, auf der Temer einen zwielichtigen Fleischbaron auffordert, Schweigegeld an einen inhaftierten Parteifreund zu zahlen. Weil Temer alles abstritt, beschloss der Zuständige beim obersten Gerichtshof, die Tonspur zu publizieren – mitsamt mehrerer massiv belastender Justiz-Videos. „Eine Atombombe“, titelten die Medien und gingen von einem Rücktritt aus. Doch Temer blockt. „Sollen sie mich doch stürzen“, sagte er der „Folha de São Paulo“.

Die größte Gefahr für Temer droht durch den Generalstaatsanwalt, der den obersten Gerichtshof bat, wegen Behinderung der Justiz, Vorteilsnahme und Bildung einer kriminellen Vereinigung ermitteln zu dürfen. Sollten die Höchstrichter das zulassen, dürfte die Parlamentsmehrheit weg sein – die zwei wichtigsten Koalitionspartner haben von den Höchstrichtern ihren Verbleib in der Regierung abhängig gemacht. Während die Medien nun schon über Nachfolgekandidaten spekulieren, werfen besonnene Beobachter den Blick auf eine wachsende Gefahr: Bei den Demonstrationen tauchten einzelne Transparente auf, die Demokratie mit Korruption gleichsetzen oder gar ein Verschwinden der gesamten politischen Klasse verlangen. Der Vertrauensverlust könnte Populisten oder Extremisten den Weg bereiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2017)

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