Heute geht es los mit den Verhandlungen über den britischen EU-Austritt. Das neue politische Kräfteverhältnis in London wird eine der entscheidenden Fragen für das Ergebnis sein.
London. Mit dem Auftakt der ersten Verhandlung in Brüssel wird es knapp ein Jahr nach dem Votum der Briten nun endlich ernst. Der bisher rein hypothetische Brexit wird mit Leben erfüllt. Der erste Termin startete verhalten freundlich. "Es gibt mehr, das uns eint, als uns trennt", sagte der britische Brexit-Verhandler David Davis beim Eintreffen im Kommissionsgebäude. EU-Chefverhandler Michel Barnier erklärte, er hoffe auf die Ausarbeitung eines Zeitplans und eine Prioritätensetzung.
Seit der Wahlen vom 8. Juni ist die britische Position für diese Verhandlungen Gegenstand heftiger Spekulationen. Premierministerin Theresa May wollte eine Stärkung ihrer Position, geerntet hat sie jedoch eine gewaltige Abfuhr: „Damit ist genau jene Diskussion wieder entfacht worden, die sie zu beenden gehofft hatte“, sagt der Politikprofessor Anand Menon zur „Presse“. Die britische Regierung hat am Sonntag ihr Festhalten am Austritt aus der EU unterstrichen, aber auch Kompromissbereitschaft angedeutet. Es gebe „keinen Zweifel – wir treten aus der EU aus“, erklärte der zuständige Brexit-Minister David Davis. Im Raum steht nun wieder die Frage, welche Art des Austritts es letztlich geben wird.
Harter Brexit
May stellte sich nach dem Referendum an die Spitze der Anhänger eines harten Brexit. Als Ziele der EU-Austrittsverhandlungen definierte sie: Britische Gesetze müssen wieder in London gemacht werden, die Unterstellung unter den Europäischen Gerichtshof muss enden und Großbritannien wieder allein über Einwanderung bestimmen. May machte den Brexit-Slogan „Take Back Control“ zu ihrem Programm, und dieser Maxime wurde alles untergeordnet. Wenn der Preis dafür der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion wäre, würde man dies eben in Kauf nehmen, sagte sie. Experten sprechen von einem Verlust von 2,4 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes.
Mays Haltung scheint unverändert. Dafür gibt es aber unübersehbar Bewegung in ihrem Kabinett: Brexit-Minister Davis versuchte zuletzt den Ball an die Europäer zurückzuspielen: „Wir wollen ja nicht aus dem Binnenmarkt austreten. Aber die EU sagt uns, dass wir nur so ein Ende der Personenfreizügigkeit bekommen können.“ Die Labour Party ist in der Haltung zum Binnenmarkt wieder sichtbar gespalten. Während sie es nun in der Hand hat, die geschwächte Premierministerin zu Zugeständnissen zu zwingen, scheint die Partei selbst nicht zu wissen, wo man solche überhaupt will.
Weicher Brexit
Insbesondere die Wirtschaft, „die von May bisher in geradezu schockierender Weise ignoriert worden ist“ (Menon), schöpfte aus dem Ergebnis der jüngsten Wahl Hoffnung auf neue Bemühungen, dass Großbritannien nicht auf seine wirtschaftlichen Interessen vergisst. Der Leidensdruck wächst: Die Wirtschaft hinkt im Wachstum der EU hinterdrein, 2,9 Prozent Inflation bedeuten empfindliche Belastungen für Unternehmen wie Bürger.
Das bisher deutlichste Zeichen für ein Überdenken der Position gab Schatzkanzler Philip Hammond: „Meine klare Ansicht ist, dass wir dem Schutz der Arbeitsplätze, des Wachstums und des Wohlstands Priorität geben müssen.“ Zur BBC sagte er jedoch: „Wir verlassen den Binnenmarkt und die Zollunion. Was es zu vermeiden gilt, sind steile Klippen.“ Die nordirische DUP, die künftig May unterstützen wird, betonte: „Wir wollen keinen harten oder weichen Brexit, sondern eine Lösung, die für alle gut ist.“
Chaotischer Brexit
Dennoch könnte May an ihrer harten Position festhalten. Wirtschaftlich wäre das die schlechteste Option, bei einem Scheitern wäre Großbritannien, das heute 55 Prozent seiner Exporte zollfrei in die EU liefert, auf Handelsregeln der WTO und neue Zollschranken zurückgeworfen.
Dennoch ist auch dieses Szenario nicht auszuschließen: Die geschwächte Premierministerin könnte versuchen, aus einem inszenierten Drama innenpolitisches Kleingeld zu schlagen, um so ihre Schwäche in Stärke umzumünzen. Mehr als 80 Prozent der neuen Unterhausabgeordneten sind auf Basis von Wahlprogrammen gewählt worden, die den Brexit befürworten. Im Moment angeblicher nationaler Bedrohung werden sie sich einer Flut flammender Appelle des Zusammenrückens nicht erwehren können.
Einstweilen kursieren noch unterschiedlichste Voraussagen. Ein EU-Diplomat zeigt sich überzeugt: „Wir wissen, dass die Krise in den Gesprächen kommen wird.“ Politikexperte Menon erwartet, dass die Innenpolitik letztlich das Ergebnis diktiert: „May hat schon bisher politische über wirtschaftliche Erwägungen stellt.“ Und der dänische Finanzminister, Kristian Jensen, höhnt nur noch über den so oft wiederholten Slogan der angeschlagenen Premierministerin „Brexit means Brexit“: „Das hat so viel Bedeutung wie Breakfast means Breakfast.“
ZEITPLAN
Heute, Montag, starten die Brexit-Verhandlungen in Brüssel nach Artikel 50 des EU-Vertrags.
Bis Oktober 2018 muss nicht nur die formale Trennung, sondern auch eine mögliche Vereinbarung der künftigen Beziehungen zwischen den EU-27 und Großbritannien verhandelt werden. Kommt bis dahin keine Einigung darüber zustande, wird die Trennung ohne Folgeabkommen gültig. Stimmen alle Mitgliedstaaten dafür, können die Verhandlungen aber verlängert werden.
Ab Oktober 2018 beginnt nach derzeitigem Zeitplan die Ratifizierung des Abkommens. Großbritanniens Mitgliedschaft endet im März 2019.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.06.2017)