Merkel hebt den Fraktionszwang der Union in der Frage auf. Die SPD will nächste Woche abstimmen. Manche Unions-Abgeordnete wollen das Thema "überhaupt nicht im Bundestag haben".
Drei Monate vor der Bundestagswahl gehen die Koalitionspartner Union und SPD getrennte Wege bei der "Ehe für alle". Die SPD hat am Dienstag angekündigt, dass sie die rechtliche Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare noch in dieser Woche im Bundestag notfalls auch gegen den Willen der Union durchsetzen wolle. Mit Linken und Grünen gibt es dafür wohl eine Mehrheit.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz rechtfertigte den Vorstoß damit, dass Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel angekündigt hatte, die Union wolle eine Abstimmung als Gewissensentscheidung freigeben. Dies schien aber auf die nächste Wahlperiode gemünzt. Die Union warnte vor einer "überstürzten Entscheidung". Doch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beugte sich dem Druck. Sie hob den Franktionszwang der Abgeordeten für die anstehende Abstimmung auf. Damit ist der Weg für die Ehe für Homosexuelle frei in Deutschland.
"Madame - geben Sie Gewissensfreiheit. Und zwar jetzt!" hatte Außenminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel die Regierungschefin zuvor aufgefordert. Anlass des gemeinsamen Presseauftritts aller Bundesminister der SPD mit Schulz und Fraktionschef Thomas Oppermann war eigentlich, die Erfolge der Sozialdemokraten in der Regierung herauszustellen. Mit dem Alleingang bei der Ehe für alle ohne die Union verstieße die SPD gegen die Gepflogenheit, dass Koalitionspartner im Bundestag nicht mit wechselnden Mehrheiten Themen auf die Tagesordnung setzen, wenn einer der Partner dies ablehnt.
Eine inhaltliche Wende mit schnellen Folgen
Merkel vollzog am Montagabend bei einer Veranstaltung der Zeitschrift "Brigitte" eine Wende. Sie wolle "die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt hier mit einem Mehrheitsbeschluss etwas durchpauke", sagte die CDU-Vorsitzende. SPD, Grüne und FDP hatten zuvor die völlige Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare zur Bedingung für eine Koalitionsbildung nach der Bundestagswahl gemacht.
Die SPD sieht sich damit im Recht, nun eine Abstimmung zu erzwingen. Merkel habe sich bewegt, sagte Schulz: "Und wir nehmen sie jetzt beim Wort." Der Union warf er vor, sie habe die Gleichstellung über Jahre hinweg blockiert. Gabriel hielt ein Schreiben in die Kameras, in dem er am 24. November 2015 die Kanzlerin zu einer gemeinsamen Regelung der Ehe für alle aufgefordert habe. Schulz sagte, die Union habe zuletzt im Koalitionsausschuss Ende März eine Einigung abgelehnt.
Schwule und Lesben können seit 2001 zwar eine eingetragene Lebenspartnerschaft schließen. Sie ist der Ehe aber nicht völlig gleichgestellt, da sie zum Beispiel kein Adoptionsrecht umfasst. Auf Initiative der rheinland-pfälzischen Landesregierung fasste der Bundesrat im September 2015 einen Beschluss zur Gleichstellung, der nun dem Bundestag vorliegt. Darüber will die SPD abstimmen lassen. "Wir werden es auf jeden Fall tun", sagte Oppermann.
Die Union und "die letzten konservativen Werte"
Der Parlamentarische Fraktionsgeschäftsführer der Union, Michael Grosse-Brömer, lehnte dies ab. Man sei sich "mit der SPD immer einig gewesen, dass wir in dieser Legislatur keine Entscheidung treffen". Er warne davor, "jetzt eine überstürzte Entscheidung zu treffen". Auch Merkel hatte am Montag angedeutet, dass sie gegen eine Reform noch vor der Wahl am 24. September ist. "Dass wir jetzt vier Jahre mit der SPD nie über dieses Thema gesprochen haben und jetzt im Wahlkampf soll es 'Holter die Polter' gehen, das finde ich seltsam". In der Union gab es Zustimmung, aber auch Kritik für Merkel. Der CSU-Abgeordnete Peter Ramsauer sagte, Deutschland habe "ganz andere Probleme". "Aber die CDU-Führung soll sich davor hüten, auch noch die letzten konservativen Werte zu zerstören", sagte der Ex-Minister der "Rheinischen Post" (Mittwoch). Er persönlich wolle das Thema "überhaupt nicht im Bundestag" haben.
Zustimmung kam von den Grünen. "Ich will sehen, dass wir in dieser Woche nach dem Gewissen im Deutschen Bundestag darüber entscheiden", erklärte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. "Wir müssen von allen erwarten, dass der Gesetzentwurf des Bundesrates auf den Tisch gelegt wird, und zwar im Bundestag, und zwar zur Abstimmung." Auch FDP-Chef Christian Lindner begrüßte den Kurswechsel Merkels. "Die Ehe für alle Paare ist eine Selbstverständlichkeit in anderen europäischen Ländern, und die sehr überwiegende Mehrheit der Deutschen in allen Umfragen sieht das genauso", sagte Lindner im rbb. Linken-Chef Bernd Riexinger warf Merkel Taktieren vor. "Es ist überraschend, wie weltoffen sich die Kanzlerin in Zeiten des Wahlkampfs gibt", sagte er.
Ein Ende der Koalition steht für SPD und Unionsparteien nicht zur Debatte. "Nö, wir lassen die Koalition nicht platzen", sagte der SPD-Kanzlerkandidat. Die SPD werde durchsetzen, dass der Bundestag in dieser Woche über die rechtliche Gleichstellung abstimme. "Dann muss die Union entscheiden, ob sie ihrer Kanzlerin folgt." CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte, die Union werde mit dem Abstimmungsergebnis "demokratisch umgehen". "Wir sind am Ende der Sitzungszeit, da sollten wir uns darauf besinnen, was die Menschen im Land von uns erwarten."
ÖVP bisher ablehnend
Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) forderte die ÖVP auf, dem Beispiel Merkels zu folgen und die Abstimmung über die "Ehe für alle" im Nationalrat freizugeben. "Liebe darf keine Frage des Klubzwangs sein", schrieb Kern auf Facebook. Anders als in Deutschland haben die eine "Ehe für alle" befürwortenden Fraktionen - SPÖ, Grüne und Neos - keine Mehrheit.
Frauenministerin Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) übermittelte ÖVP-Chef Sebastian Kurz und Vizekanzler Wolfgang Brandstetter (ÖVP) Anfang Juni einen Gesetzesentwurf. Sie zeigten sich ablehnend. Anders als ihre deutschen Schwesterparteien CDU und CSU ist die ÖVP in der Frage der "Ehe für alle" aber parlamentarisch nicht isoliert. In Österreich konnten bisher auch FPÖ und Team Stronach nichts mit der sogenannten "Homo-Ehe" anfangen.
(APA/dpa/AFP)