Japans Militärexperten stellen das bestehende Raketenabwehrsystem infrage und denken über die Möglichkeit von Gegenschlägen nach. Chinas Soldaten proben vor koreanischer Halbinsel Angriffe auf Küsten.
Tokio. Japan ist alarmiert und bereitet sich auf das Äußerste vor. Nordkorea habe in seinem Atomwaffenprogramm „gefährliche Fortschritte“ erzielt, heißt es im Lagebericht des Tokioter Verteidigungsministeriums. Da die kommunistische Diktatur seit vergangenem Jahr 20 Flugkörper und zwei Atombomben getestet hat, sei es inzwischen „vorstellbar“, dass Nordkorea bereits in der Lage ist, „die atomaren Sprengkörper so zu verkleinern, dass diese von Raketen auf den Weg gebracht werden könnten“.
Besonders beunruhigt zeigt sich Japans Militär über den Test einer Interkontinentalrakete Ende Juli, die nur 200 Kilometer vor der japanischen Küste ins Meer gestürzt war. Mit einer veränderten Flugbahn hätte das Geschoss die japanischen Inseln, US-Stützpunkte im Pazifik und selbst die Ostküste der USA erreichen können. Das sei ein „qualitativer und quantitativer Anstieg der Spannungsgefahr“, erklärte der neue Verteidigungsminister Itsunori Onodera. Unter diesen Umständen müsse überprüft werden, ob „unsere gegenwärtige Raketenabwehr noch ausreicht“.
Angriff statt Verteidigung?
Damit bereitet Tokio offenbar einen militärischen Paradigmenwechsel vor. Möglich ist nun sogar eine Abkehr von der laut Verfassung geltenden defensiven Militärstrategie. Bisher verfügt Japan über keine Kampfbomber oder Raketen zu Angriffszwecken.
Der erst am vergangenen Donnerstag von Premierminister Shinzō Abe ins Amt berufene Verteidigungsminister sagte gegenüber der Zeitung „Japan Times“, er erwäge die „Option, den Selbstverteidigungskräften zu erlauben, sich so zu bewaffnen, das diese nordkoreanische Raketenbasen direkt angreifen können“. Noch am Sonntag hatte Abe anlässlich des 72. Jahrestags des Atombombenabwurfs auf Hiroshima erklärt, er habe momentan „keinen Plan“, seinen Streitkräften die Möglichkeit zum Angriff auf andere Staaten zu gestatten. Eine solche Kriegsführung sei nach Artikel 9 der Verfassung verboten. Allerdings räumen die jüngsten Gesetzesänderungen der Regierung ein, „Gegenschläge unter bestimmten Bedingungen als theoretisch akzeptabel zu betrachten“.
Dieser besondere Verteidigungsfall könnte bereits eintreten, wenn eine nordkoreanische Rakete nach einem Teststart japanisches Territorium überfliegt. In dem am Dienstag veröffentlichten Weißbuch des Verteidigungsministeriums warnen Militärexperten erstmalig ausdrücklich vor einem Überraschungsangriff aus Nordkorea. Nach Ansicht der Experten müsse sich Japan Sorgen darüber machen, dass Pjöngjang daran arbeitet, Raketenstarts durch mobile und schnell einsatzbereite Abschussrampen vorab schwer erkennbar und damit unvorhersehbarer zu machen. Diese Erfolge könnten das Regime dazu verleiten, „sich zu überschätzen“ und immer riskantere militärische Provokationen zu unternehmen.
Ähnliche Sorgen scheint auch China zu haben. Peking entsandte Soldaten vor die Küste der koreanischen Halbinsel, um Waffen und Flugabwehrsysteme zu erproben und Angriffe auf Küsten zu üben. China ist Nordkoreas wichtigster Verbündeter. Doch mittlerweile scheint die Volksrepublik die Geduld mit ihrem erratischen Nachbarn zu verlieren. Am Samstag hatte China im UN-Sicherheitsrat einer Verschärfung der Handelssanktionen gegen Nordkorea zugestimmt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2017)