Analyse

Weiter so! Weiter so? Deutschland lebt von der Substanz

Der Nachwuchs muss warten: 300.000 Kita-Plätze fehlen in Deutschland.
Der Nachwuchs muss warten: 300.000 Kita-Plätze fehlen in Deutschland.(c) Gregor Fischer/picturedesk.comcher
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Es sind „goldene Jahre“ unter Angela Merkel. Aber es gibt ein Problem: Das Land steckt im Investitionsstau.

Berlin. Milde lächelt die Kanzlerin von den Plakaten. Die dumpfen Parolen der weltweiten Populisten kontrastiert sie mit dem wohligen Slogan „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben.“ Wie einst CDU-Übervater Konrad Adenauer ruft Angela Merkel die Deutschen auf, „keine Experimente“ zu wagen. Es ist ein „Weiter so“ in allen Variationen, das diesen CDU-Wahlkampf durchdringt. Und wer noch zweifelt, möge die Statistik bedienen: die Rekordbeschäftigung, die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, die prall gefüllte Staatskasse, anziehende Löhne. „Wir erleben goldene Jahre“, sagt Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, zur „Presse“.

Bloß treibt den renommierten Ökonomen die Sorge um, dass Deutschland diese „goldenen Jahre verschenkt“. Marode Schulen und gesperrte Brücken zeugen von einem gewaltigen Investitionsstau, der auf der Zukunft lastet – und den im Grunde alle Parteien einräumen. Die jüngste Regierung hat zwar da und dort milliardenschwere Programme aufgelegt. Bloß: Es reicht nicht.

Digitalisierung

Wer die Hauptstadt verlässt, stürzt rasch in ein Empfangsloch. Das Internet erlahmt auf dem Land. Europas mächtigste Industrienation hinkt beim Glasfaserausbau hinterher – Platz 29 von 35 in einem OECD-Vergleich. Es gibt zwar das Ziel, Internetdaten bis 2018 flächendeckend mit mindestens 50 MBit/Sekunde fließen zu lassen. Aber erstens ist das Ziel ziemlich bescheiden. Und zweitens wird es ziemlich sicher verfehlt. Die Kanzlerin entzieht sich ihren Kritikern, indem sie selbst deren Geschäft macht und zu mehr Investitionen in die Digitalisierung mahnt, auch in der Verwaltung, die noch immer ein Monster aus Papier ist. Dass CDU-Finanzstaatssekretär Jens Spahn privat in ein Start-up investiert hat, das sich auch auf elektronische Steuererklärungen versteht, erzählt schon die halbe Geschichte. Österreich mag nicht mehr das „bessere Deutschland“ sein. Im E-Government hat man den Nachbarn aber abgehängt, der seit einem Jahrzehnt an seinem Pendant zur E-Card herumdoktert.

Bildung

Ulrike Kipf und ihr Bezirkselternausschuss Berlin-Steglitz-Zehlendorf haben einst einen „Adventkalender“ publiziert: jeden Tag ein neues Bild aus den maroden Schulen. Zwar hat sich ein bisschen etwas getan: „Aber es gibt noch immer Fassaden, die bröckeln, Fenster, die nicht schließen, Dächer, durch die es in die Schulen regnet“, sagt sie zur „Presse“. Mitunter schimmelt es, weshalb jüngst die Turnhalle einer Grundschule gesperrt wurde. 34 Milliarden Euro fehlen deutschlandweit für die Sanierung von Schulen. Und nebenbei auch 300.000 Kita-Plätze. Marode Schulbauten liefern das Bild für ein tiefergehendes Problem: Deutschland investiert wenig in Bildung, nämlich 4,3 Prozent seiner Wirtschaftleistung. Im OECD-Schnitt sind es 5,2 Prozent. In Berlin gibt es einen akuten Lehrermangel, weshalb pädagogisch kaum geschulte Quereinsteiger im Klassenzimmer stehen und um Lehrer aus Österreich geworben wird. Nun lässt sich das föderale Deutschland nicht über einen Kamm scheren, im reichen Bayern etwa klappt es besser als in Bremen. Bildung ist Ländersache. Der Bund muss sich meist heraushalten. Aber inzwischen wollen alle möglichen Koalitionspartner der Union – SPD, Grüne, FDP – dieses „Kooperationsverbot“ abräumen.

Verkehr

Das Mahnmal spannt sich bei Leverkusen über den Rhein: Die Autobahnbrücke dort ist seit drei Jahren für Lkw gesperrt. Deutschlandweit gibt es 2500 baufällige Brücken. Dahinter liegt ein strukturelles Problem, sagt Fratzscher. 6,5 Milliarden Euro müssten jährlich zusätzlich investiert werden, um die Verkehrswege zu erhalten. Die Bauämter in den Gemeinden wurden ausgedünnt. Und jetzt, da der Bund Geld hat und (teilweise) bereitstellt, fehlt es an Ingenieuren, die dieses Geld „verplanen“. Die Verfahren ziehen sich hin.

Exportüberschuss

Von US-Präsident Donald Trump bis zu IWF-Chefin Christine Lagarde: Alle tadeln sie Deutschland wegen seines Leistungsbilanzüberschusses von 252 Milliarden Euro. „Das Problem ist aber nicht, dass Deutschland viel exportiert. Sondern, dass es zu wenig importiert“, sagt Fratzscher. Angesichts des prächtigen Geschäftsklimas investiert Deutschland ziemlich wenig in Deutschland, nämlich knapp unter dem OECD-Schnitt. Der Löwenanteil der Investitionen entfällt auf die Privatwirtschaft. Zugleich hat die Große Koalition „falsche Signale“ gesetzt mit der Mütterrente oder der Rente mit 63. „Die Sozialausgaben gingen nach oben, zulasten der öffentlichen Investitionen“, sagt Fratzscher.

Die Deutschen würden nicht morgen in Griechenland aufwachen, meint der Ökonom. „Aber ich mache mir Sorgen, dass wir unsere Führungsrolle verlieren könnten.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2017)

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