Unabhängigkeitsreferendum: "Die Temperatur steigt"

In Barcelona wurde gestern nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für die Einigkeit Spaniens demonstriert.
In Barcelona wurde gestern nicht nur für die Unabhängigkeit, sondern auch für die Einigkeit Spaniens demonstriert. (c) REUTERS (YVES HERMAN)
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Vor dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien bringen sich Madrid und Befürworter der Sezession in Stellung. Um ein Online-Votum zu verhindern, besetzte die spanische Polizei IT-Zentren in Barcelona.

Sie kletterten über Tore und Zäune. Oder kamen gleich mit dem Schlüssel. Tausende katalanische Unabhängigkeitsbefürworter besetzten Stunden vor Beginn des illegalen Referendums über eine Abspaltung Kataloniens viele Wahllokale in der rebellischen Region. Damit wollten sie verhindern, dass die Polizei eine Richteranordnung umsetzt, nach der am heutigen Sonntag alle Wahlbüros, die vor allem in Schulen vorgesehen sind, geschlossen bleiben müssen.

Zugleich versuchten die spanischen Sicherheitskräfte am Samstag, die Logistik der von Spaniens Verfassungsgericht verbotenen Abstimmung zu zerschlagen. In zwei Technologiezentren der katalanischen Separatistenregierung in Barcelona wurden jene Anwendungen abgeschaltet, die eine Stimmabgabe via Internet möglich machen sollten. Auch die Computertechnik zur Auszählung von Wahlstimmen wurde blockiert. Die letzten Tage waren bereits an mehreren Orten Millionen Stimmzettel beschlagnahmt worden.

Jene Beamte, die am Samstag die Besetzer der Wahlbüros ermahnten, dass sie die Lokale bis Sonntagmorgen sechs Uhr räumen müssen, wurden mit Protestrufen empfangen. „Votarem, votarem“, sangen die Menschen auf Katalanisch. „Wir werden wählen, wir werden wählen.“ Unter den Besetzern sind auch Lehrer und Eltern, die sogar mit ihren Kindern kamen. Der Polizei sagten sie, dass sie Samstagnacht und auch den Sonntag bleiben wollten, „um eine Pyjama-Party zu feiern“. Oder um in einem Wochenend-Workshop den katalanischen Volkstanz Sardana zu üben.

In dem heutigen fragwürdigen Plebiszit, das unter chaotischen Bedingungen und ohne rechtliche Garantien stattfindet, soll über folgende Frage abgestimmt werden: „Wollen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird?“ Die Separatisten, die mit einer knappen absoluten Mehrheit in Katalonien regieren, setzen sich damit über ein Verbot des spanischen Verfassungsgerichtes hinweg. Die Richter hatten den Volksentscheid suspendiert, weil er nicht – wie in der Verfassung vorgeschrieben – von Spaniens Regierung und Parlament genehmigt worden ist.

Nach vorläufigen Angaben der Polizei von Samstagnachmittag waren wenigstens 163 von 1300 kontrollierten Wahlbüros von der Unabhängigkeitsbewegung besetzt. Kataloniens Ministerpräsident Carles Puigdemont hatte angekündigt, dass es insgesamt 2315 Wahllokale in der Region geben soll. Die katalanische Polizei, die Mossos d'Esquadra, teilte mit, dass sie nicht mit Gewalt gegen die Besetzer vorgehen wolle. Spaniens Zentralregierung in Madrid schickte mehr als zehntausend Beamte der spanischen Nationalpolizei und der paramilitärischen Guardia Civil nach Katalonien, um das Abstimmungsverbot durchzusetzen.

Sie dürften auf heftige Proteste stoßen: Zehntausende freiwillige Wahlhelfer der separatistischen Bürgerplattform Assemblea Nacional Catalana (ANC), der Katalanischen Nationalversammlung, wollen sich den Beamten entgegenstellen und die Wahlurnen verteidigen: „Mit friedlichem Widerstand, null Gewalt und maximaler Kühnheit“, wie es in einem ANC-Aufruf heißt.

Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen Befürwortern und Gegnern des einseitigen Unabhängigkeitsreferendums wurden Krawalle nicht ausgeschlossen. Zu einem Zwischenfall kam es bereits vor einem Wahllokal im katalanischen Ort Manlleu: Dort schoss ein Unbekannter mit einer Schrotflinte auf Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung. Drei Menschen wurden leicht verletzt.

Pfarrer für Referendum

„Die Temperatur steigt“, warnte Spaniens Justizminister Rafael Catalá angesichts der brodelnden Stimmung, die auch vor den Kirchen nicht haltmacht. Rund 400 katholische Pfarrer der Region unterstützten in einem offenen Brief das Referendum und baten die spanische Regierung, „dass das legitime Streben des katalanischen Volkes erhört werde“.

Das angesprochene Volk ist in Sachen Unabhängigkeit allerdings geteilt. Umfragen zufolge möchten zwar die meisten Katalanen über die Zukunft ihrer Region in einem legalen Referendum abstimmen dürfen. Aber eine Abspaltung wurde bisher nicht von einer Mehrheit unterstützt. Angesichts der irregulären Umstände des heutigen illegalen Referendums wird auch das Ergebnis nicht als aussagekräftig gelten dürfen. Puigdemont stört dies nicht, denn er bezeichnet dieses Referendum als „demokratische Abstimmung“. Er kündigte an, dass unabhängig von der Beteiligung bei einem mehrheitlichen Ja schon binnen Tagen der Abspaltungsprozess gestartet werden soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2017)

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