Deutschland: Grünes Licht für Jamaika

Merkel und Seehofer reden nicht mehr aneinander vorbei. Sie fanden Kompromiss –unter Vermeidung des Worts „Obergrenze“.
Merkel und Seehofer reden nicht mehr aneinander vorbei. Sie fanden Kompromiss –unter Vermeidung des Worts „Obergrenze“.(c) imago/photothek
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CDU/CSU einigen sich in Flüchtlingspolitik auf Richtwert statt Obergrenze – und ebnen Weg für Sondierungen mit FDP und Grünen.

Wien/Berlin. Die sonntägliche Sitzung in der Berliner Parteizentrale über eine mögliche Neuausrichtung der Union und den Streit um die sogenannte Obergrenze zwischen den Schwesterparteien war als Marathonsession angelegt – und als Showdown zwischen den Parteichefs. „Habt ihr eure Schlafsäcke dabei?“, rief CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer den Journalisten vor dem Konrad-Adenauer-Haus jovial zu. Beim „Deutschlandtag“ der Jungen Union in Dresden waren die CSU-Delegierten beim Einzug der CDU-Chefin, Angela Merkel, tags zuvor demonstrativ sitzen geblieben. Sie hielten Schilder in die Höhe: „Wir haben verstanden. Sie auch?“ oder „Zuwanderung begrenzen“.

„Horst, es ist Zeit“

CSU-Chef Horst Seehofer hatte vor Beginn der Gespräche mit der Kanzlerin die Losung ausgegeben: „Ich kann ohne eine Lösung zur Obergrenze nicht zu meiner Basis zurück.“ Der bayerische Ministerpräsident stand unter massivem Erfolgsdruck. Seit Jahr und Tag postuliert er eine jährliche Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen. Peter Gauweiler, der frühere Franz-Josef-Strauß-Intimus, hatte ihn in via Interview zum Rücktritt aufgefordert: „Horst, es ist Zeit.“ Seehofer hatte zudem ein Grundsatzpapier formuliert, das zehn Punkte umfasst und in der „Bild“-Zeitung als „Zehn CSU-Gebote für Merkel“ vom Titel prangte. Die Ausgangssituation war also ziemlich angespannt.

Umso größer war die Erleichterung nach der Sitzung und umso breiter das Lächeln Merkels und Seehofers. Scheuer bewertete das Ergebnis als einen „guten Tag für die Union und einen guten Tag für Deutschland“ und natürlich für seinen Chef, Seehofer. Dabei hatte sich da bereits die Finsternis über Berlin gelegt. Bei Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten dominierte allerdings Skepsis. Sie sprachen von einem „Formelkompromiss“ mit kurzer Halbwertszeit und einer „Scheineinigung“, die die Sondierungen für eine Koalitionsregierung nicht überstehen würden.

Der Burgfriede zwischen Merkel und Seehofer, der bis zum Wahlabend des 24. September hielt, ist somit prolongiert. Der Kompromiss innerhalb der Union erinnert an die Kontroverse zwischen SPÖ und ÖVP in der Flüchtlingskrise Anfang 2016. Um das Reizwort „Obergrenze“ zu vermeiden, das Merkel und erst recht die Grünen ablehnen, einigten sich CDU und CSU – wie die einst von Berlin arg kritisierten Großkoalitionäre in Wien – auf einen Richtwert. 200.000 Flüchtlinge pro Jahr will Deutschland aufnehmen, in Österreich lag die Marke bei 37.500. „Wir wollen erreichen, dass die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen (darunter Flüchtlinge und Asylwerber, subsidiär Geschützte und Familiennachzug) die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt.“

Das Limit ist dehnbar. Der Kompromiss sieht Ausnahmen bei Krisensituationen vor. Das Bekenntnis zum Recht auf Asyl im Grundgesetz und zur Genfer Flüchtlingskonvention bleibt unantastbar. Bei freiwilliger Rückkehr von Flüchtlingen, bei Ausweisungen und Abschiebungen erhöht sich die Zahl aliquot.

Niedersachsen-Wahl abwarten

Merkel und Seehofer schufen so die Voraussetzung für Sondierungsgespräche mit FDP und Grünen, die am 18. Oktober in separaten Beratungen beginnen und zwei Tage später in großer Runde weitergehen sollen, wie die Kanzlerin es festlegte – mehr als zwei Wochen nach der Bundestagswahl. Es gilt zunächst, die Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober abzuwarten. Es sei höchste Zeit, mahnte Grünen-Chef Cem Özdemir.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2017)

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