Der große "Brexodus" hat begonnen

Schmerzhaftes Good-bye: Schon jetzt spüren die Briten die negativen Folgen des Brexit.
Schmerzhaftes Good-bye: Schon jetzt spüren die Briten die negativen Folgen des Brexit.APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS
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Die Gespräche mit Brüssel über den EU-Austritt laufen nicht gut für Großbritannien. Unter Gegnern wie Befürwortern werden Stimmen nach einem zweiten Referendum laut. Ärzte, Forscher, Erntehelfer und Bauarbeiter suchen das Weite.

Endlich gibt es ein Zeichen, dass der Brexit jener „große Erfolg für alle“ wird, den die britische Premierministerin, Theresa May, nicht müde wird zu versprechen: Nach Verlassen der EU sollen die Briten ab Herbst 2019 ihre Reisepässe wieder im traditionellen „navy blue“ bekommen, versprach die Regierungschefin zu Jahreswechsel. Was von glühenden EU-Gegnern als Zeichen der „Rückgewinnung unserer Unabhängigkeit und Souveränität“ (May) gefeiert wurde, erschien anderen als weiterer Hinweis auf die wachsende Kluft zwischen Großbritannien und Europa.

Der Graben, der sich hier aufzutun begonnen hat, ist tiefer als der Ärmelkanal. Mehr als 40 Jahre Mitgliedschaft in den europäischen Institutionen – erst EWG, dann EU – haben nichts daran geändert, dass „ein sehr hoher Prozentsatz in diesem Land einfach glaubt, dass Großbritannien stolzer, größer und schlicht und ergreifend besser als das restliche Europa ist“, wie der Chefkommentator des „Independent“, Tom Peck, schreibt.

Unvorbereitet

Mehr als drei Millionen Menschen aus den EU-Partnerstaaten waren seit 2004 nach Großbritannien gekommen, als Erntehelfer ebenso wie als Krankenhausärzte, als Busfahrer ebenso wie als Wissenschaftler. Der britische Hunger auf Zuwanderer schien genauso unstillbar wie der Appetit auf italienischen Prosecco, spanischen Jamón oder polnischen Wódka. Bis die Bevölkerung Halt sagte.

Die politische Elite war darauf ebenso wenig vorbereitet wie die Wirtschaft des Landes. Genau so ging die Regierung in die Verhandlungen über den EU-Austritt, die nicht nur Brexit-Minister David Davis als „die wichtigsten Verhandlungen unseres Landes seit dem Zweiten Weltkrieg“ bezeichnet. Doch selbst treueste Regierungsanhänger können zur Halbzeit nicht ernsthaft behaupten, dass die Gespräche gut für London laufen.

Mit seiner Ankündigung, man brauche möglicherweise „eine zweite Volksabstimmung, um endgültige Klarheit zu schaffen“, drohte Brexit-Godfather Nigel Farage zuletzt mit dem Zaunpfahl. Möglicherweise schoss er sich und seinem (einzigen) Anliegen damit das größte Eigentor seiner politischen Karriere: Obwohl Farage niemand mehr ernst nimmt, sehen sich nun auch EU-Befürworter mit der Forderung nach einer zweiten Volksabstimmung legitimiert.

Während die Politiker sich Scheingefechte liefern, setzen die Menschen Tatsachen. Im ersten Jahr nach dem Brexit (Juni 2016–Juni 2017) ist die Einwanderung nach Großbritannien um mehr als 100.000 Personen gesunken und hat mit 230.000 den niedrigsten Stand seit 1964, dem Beginn regelmäßiger Aufzeichnungen, erreicht. Mehr als zwei Drittel des Rückgangs waren auf geringere Einwanderung aus den EU-Staaten zurückzuführen, die um 82.000 auf 107.000 fiel.

Stagnation und Inflation

Zugleich nahm im selben Zeitraum die Zahl der EU-Bürger, die Großbritannien verließen, um 29 Prozent auf 123.000 zu. Besonders signifikant fiel dies bei Franzosen, Deutschen, Italienern, Polen und Spaniern aus. Während die Wirtschaft in der Eurozone stark wächst, leidet Großbritannien an Stagnation, rasch steigender Inflation und sinkenden Reallöhnen. Hohe Lebenshaltungskosten und das schwache Pfund zwingen insbesondere Arbeitnehmer, die Familien in der Eurozone mit ihrem Einkommen unterstützen, zum Umdenken. Warschau profitiert, wo London leidet.

„Es ist offensichtlich, dass wir an Anziehungskraft verloren haben“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Jonathan Portes. „Egal, welche Meinung man zur Einwanderung hat, es kann keine gute Nachricht sein, dass Großbritannien ein weniger attraktiver Ort zum Leben und Arbeiten geworden ist und wir als Resultat ärmer sein werden.“

Die ausländischen Arbeitnehmer fehlen mittlerweile buchstäblich an allen Ecken und Enden. Das staatliche Gesundheitswesen geht dieser Tage gerade durch seine alljährliche Winterkrise, die nun auch noch durch einen akuten Mangel an Personal verschlimmert wird: Von Ärzten über Krankenschwestern bis zu Rettungsfahrern gehen die Mitarbeiter aus der EU teilweise dramatisch zurück. Die Zahl neuer Krankenpfleger aus der EU fiel im letzten Jahr um fast 90 Prozent, 20 Prozent der EU-Ärzte wollen das Land verlassen.

Arbeitermangel

Ähnlich sieht es in den meisten anderen Branchen und Gewerben aus. Die britische Landwirtschaft beschäftigt im Jahr etwa 80.000 Saisonarbeiter, von denen 90 Prozent aus der EU kommen. Schon im Vorjahr gelang es nicht, ausreichend Erntehelfer zu finden: „Es kommen immer weniger Arbeiter“, sagt etwa Marion Regan, die in Kent Erdbeeren anbaut. Mittlerweile überbieten sich Betriebe, die bis vor Kurzem EU-Arbeitnehmer noch unter lagerähnlichen Bedingungen hielten, mit Stundenlöhnen von bis zu 15 Pfund (das Doppelte des Mindestlohns). „Es geht zu wie im Wilden Westen“, meint der schottische Großfarmer Ross Mitchell. „Nur die Stärksten überleben.“

Die Lage ist umso ernster, als es „unmöglich ist, britische Arbeitskräfte zu rekrutieren. Sie finden die Arbeit unattraktiv und unter ihrer Würde“, meint John Hardman von der Agentur Hops. Nicht anders ist die Situation in der Bauwirtschaft, wo im Großraum London die Hälfte aller Beschäftigten aus dem Ausland stammt. Die Zukunft wichtiger Infrastrukturvorhaben stünde „auf dem Spiel“, warnt bereits die Industrie.

Auch an der Spitze der Beschäftigungspyramide votieren die EU-Bürger mit den Füßen: Mehr als 2300 Universitätsmitarbeiter aus Forschung und Lehre haben im vergangenen Jahr dem Land den Rücken gekehrt. Die British Academy warnt: „Unsere weltweite Spitzenstellung im Universitätssektor ist in akuter Gefahr.“ Am stärksten war der Abgang an den führenden Hochschulen Oxford, King's College London und Cambridge.

Ähnlich alarmiert ist man in der Londoner City, dem Finanzdistrikt, wo bei einem harten Brexit bis zu 75.000 Jobs in Gefahr sind. Die anhaltende Unsicherheit führt zu einer Schreckstarre: Wer einen Job hat, hält daran fest, während keine neuen entstehen. Innerhalb eines Jahres ging die Zahl an neuen Posten um 37 Prozent zurück: „Ein derartig seismischer Fall ist ein Alarmzeichen“, sagt Hakan Enver von der Personalagentur Morgan McKinley. Mit den Ausländern geht aber nicht nur Wissen verloren, sondern auch jene gegenseitige Inspiration, die Großbritannien einst zu „Cool Britannia“ gemacht hat.

Wer das Land nicht verlässt, versucht sich auf andere Art Sicherheit zu verschaffen: 30.000 EU-Bürger suchten im ersten Jahr nach dem Brexit um die britische Staatsbürgerschaft an, eine Verdoppelung. In den Verhandlungen mit Brüssel hat London nun einer Vereinfachung und Verbilligung des bisher kafkaesken Verfahrens zugestimmt. Auch mit einem Reisepass in „navy blue“ werden sie aber künftig die Vorteile des freien Reiseverkehrs verlieren.

Briten hingegen, denen diese Zukunft unheimlich ist, suchen ihrerseits Zuflucht, indem sie sich europäische Staatsbürgerschaften besorgen, selbst bei alten Erzfeinden wie Deutschland und Frankreich. Weit voran aber liegt der Nachbar: Mehr als 160.000 Briten holten sich im vergangenen Jahr einen irischen Pass. Schätzungen zufolge haben rund sechs Millionen Briten Vorfahren von der grünen Insel. Nie war eine „Irish Granny“ beliebter als heute, und nie war es zeitgemäßer, „Angela's Ashes“ aus dem Regal zu holen.

In Zahlen

51,89 Prozent der Briten stimmten am 23. Juni 2016 für den Austritt Großbritanniens aus der EU. Die britische Premierministerin Theresa May leitete den Prozess offiziell am 29. März 2017 ein – Startschuss für eine zweijährige Verhandlungsperiode. Laut der britischen Regierung soll der Austritt am 29. März 2019 schlagend werden.

50 Prozent der Briten wünschen sich laut einer jüngsten Umfrage mittlerweile ein zweites Referendum über die finalen Bedingungen des Austritts. Die EU-Spitzen haben London zuletzt signalisiert, man sei offen dafür, wenn Großbritannien doch in der Union verbleiben wolle.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2018)

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