Analyse. Die Republikaner von Ex-Premier Sargsjan verhinderten die Wahl des neuen Premiers. Sie spielen auf Zeit und hoffen auf Neuwahlen. Ein riskantes Spiel.
Wien/Eriwan. Zwischen den Tuffsteinbauten auf dem Eriwaner Republiksplatz herrschte gestern Volksfeststimmung. Hupend fuhren Autos und Lastwagen vorbei, Demonstranten tanzten und jubelten. Auch an anderen Orten der Hauptstadt, wo Oppositionsaktivisten dem Ruf Nikol Paschinjans folgend die Straßen abgesperrt hatten, bot sich ein ähnliches Bild: Überall war da Euphorie, Freudenstimmung, Siegesgewissheit.
Dass der bärtige Paschinjan, das prominente Gesicht der armenischen Protestbewegung und mittlerweile auch auf T-Shirts gedrucktes Idol, tags zuvor beim Votum im Parlament von einer knappen Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt worden war, tat der Begeisterung keinen Abbruch. Im Gegenteil: Jene Armenier, die seit drei Wochen für eine Ablösung der Regierung demonstrieren, sind siegessicherer als je zuvor. Dass die meisten Abgeordneten der regierenden Republikaner von Sersch Sargsjan den Oppositionspolitiker abgelehnt haben, obwohl dieser Tausende von Unzufriedenen mobilisiert hat, stellt in den Augen der Demonstranten eine moralische und politische Bankrotterklärung dar. Doch im Parlament hat Paschinjan nun einmal keine Mehrheit. Und die Ankündigung der Republikaner, ihn zum Premier zu wählen, erwies sich als leeres Versprechen.
Neuerlicher Versuch am 8. Mai
Die verpatzte Wahl am Dienstag folgte einer mehrstündigen Debatte, in der die Abgeordneten Paschinjan mit Fragen bombardiert hatten, die darauf gezielt hatten, Zweifel an seinen Führungsqualitäten zu wecken. Schließlich stimmten nur 45 von 105 Abgeordneten für den Oppositionsführer. Er hätte mindestens 53 Stimmen benötigt. Die Republikaner, die die staatlichen Institutionen und den Sicherheitsapparat kontrollieren, wollen die Macht nicht abgeben. Parlamentspräsident Ara Bablojan berief am Mittwoch eine neuerliche Sondersitzung für den 8. Mai um zwölf Uhr ein. Sollte die Wahl des Premierministers neuerlich misslingen, müssen laut Verfassung Neuwahlen ausgerufen werden.
Die knappe Woche bedeutet für beide Seiten vor allem eines: Zeit. Paschinjan, der einen „Generalstreik“ ausgerufen hat, will den Druck der Straße aufrechterhalten. Gestern blockierten Oppositionsanhänger mehrere wichtige Verbindungsstraßen und Eisenbahnlinien. Allerdings sind nicht alle Armenier von der Blockade begeistert. Je länger die Unklarheit anhält, desto lauter dürfte auch die Kritik an dem Oppositionsführer werden. Die Regierung hingegen drängt – vordergründig zumindest – auf Verhandlungen. Übergangspremier Karen Karapetjan rief die politischen Kräfte des Landes zu Gesprächen auf. Armenien benötige „zivilisierte, praktische und schnelle Entscheidungen, um die politische Krise zu lösen“, sagte er. Auch Staatspräsident Armen Sarkissjan rief alle Kräfte zum Verhandlungstisch.
Politik der Verhinderung
Die Regierung will einen Premier Paschinjan offenkundig um jeden Preis verhindern. Man munkelt, dass sie Robert Kotscharjan als Premier vorschlagen könnte. Kotscharjan war Sargsjans Vorgänger als Präsident. Seine Nominierung dürfte die Oppositionskräfte wohl kaum zufriedenstellen. Die Verhinderungspolitik der Elite vertieft die Gräben zwischen den Lagern und stachelt die Opposition ihrerseits zu waghalsigen Aktionen an. Aus heutiger Sicht scheint Armenien auf Neuwahlen zuzusteuern. Das Kalkül der Republikaner könnte sein, dass bei einem Wahlgang die Karten wieder neu gemischt werden – und Paschinjan bis dahin das Image des Revolutionshelden längst los ist.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2018)