Nigeria: Das neue Armenhaus der Welt

Der Erdölstaat Nigeria ist Afrikas größte Volkswirtschaft. Hier lebt der reichste Afrikaner, zugleich wächst die Zahl der Armen.
Der Erdölstaat Nigeria ist Afrikas größte Volkswirtschaft. Hier lebt der reichste Afrikaner, zugleich wächst die Zahl der Armen.REUTERS
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Afrikas größte Volkswirtschaft hat Indien als Land mit den meisten Menschen in extremer Armut abgelöst. 87 Millionen Einwohner müssen mit weniger als 1,90 Dollar pro Tag überleben.

Wien. Es gibt gute Nachrichten. Wenn Sie diesen Text zu Ende gelesen haben, werden wieder ein paar Dutzend Menschen der extremen Armut entkommen sein. 1,1 sind es pro Sekunde. So zeigt es die World Poverty Clock an, eine interaktive Website, die Armut in Echtzeit misst (oder genauer: schätzt). Doch in Teilen Afrikas tickt die Armutsuhr anders. Die Zeiger laufen in die falsche Richtung. 18 Länder gibt es weltweit, in denen die Armut den Prognosen zufolge nicht schwindet, sondern steigt. 14 davon liegen in Afrika.

Nigeria zum Beispiel. Die größte Volkswirtschaft Afrikas ist nun in absoluten Zahlen auch das größte Armenhaus der Welt. Denn in diesem Frühjahr hat Nigeria den Schätzungen zufolge Indien als das Land mit den meisten Menschen in extremer Armut abgelöst. 87,1 Millionen Nigerianer müssen demnach mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag auskommen. Im sieben Mal größeren Indien sank die Zahl indes auf 70,2 Millionen.

Die Ergebnisse überraschten auch Martin Hofer, Forscher bei World Data Lab und damit jener Wiener NGO, die die Website World Poverty Clock betreibt. Hofer ging zwar davon aus, dass die Armut in Indien viel schneller sinken würde als in Nigeria. „Aber wir haben nicht damit gerechnet, dass es in Nigeria in die falsche Richtung geht“, sagt er zur „Presse“. Jede Minute kämen sechs weitere Nigerianer hinzu, die mit weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag (über)-leben müssten.

Große Unterschiede

Immer schon grassierte in dem bevölkerungsreichsten afrikanischen Land die Ungleichheit. Nigeria ist nicht nur die Heimat der meisten Menschen in extremer Armut, sondern auch des reichsten Afrikaners, Aliko Dangote. Die Entwicklungsorganisation Oxfam schätzte jüngst, dass Dangote pro Tag das 8000-fache dessen verdient, was arme Nigerianer für ihre Grundbedürfnisse ausgeben – pro Jahr.

Und Nigeria schwimmt im Öl. Der Preisverfall des Rohstoffs war es jedoch auch, der das Land 2016 zwischenzeitlich in die Rezession stürzte. Inzwischen zieht die Wirtschaft zwar wieder an. Weshalb Nigerias Handelsminister Okechukwu Enelamah auf die World Poverty Clock nicht viel gibt (Armutszahlen sind in Afrika immer auch ein Politikum). Es gibt jedoch ein Dilemma: Die Wirtschaft dürfte zwar auch künftig wachsen, aber eben langsamer als die Bevölkerung. Mit dramatischen Folgen für die nächsten Generationen.

Allerdings lässt sich Afrika nicht über einen Kamm scheren. Es gibt Lichtblicke. „In Äthiopien zum Beispiel wird Armut effektiv bekämpft“, sagt Datenanalyst Hofer. Aber aus der Vogelperspektive ist Asien dem afrikanischen Kontinent enteilt. Und der Abstand wird sich noch vergrößern: Zwei von drei Menschen in extremer Armut leben heute zwischen Mittelmeer und Kap der Guten Hoffnung. In zwölf Jahren dürfte sich die extreme Armut zu 90 Prozent in Afrika abspielen. Bis dahin sollte die extreme Armut eigentlich weltweit beseitigt sein. So sehen es die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung vor. Doch dafür müssen sich zuerst die Voraussetzungen ändern.

Konflikte hemmen Aufstieg

Afrikas düstere Prognose hat nämlich mit den zahlreichen lokalen Konflikten zu tun. In Nigerias Nordosten zum Beispiel wütet die islamistische Boko-Haram-Sekte. Der Südsudan ist geschunden von einem Bürgerkrieg. In diesem jüngsten Staat der Welt leben auch deshalb – gemessen an der Einwohnerzahl – die meisten Menschen in extremer Armut. Es sind 85 Prozent der Bevölkerung (Nigeria: 44 Prozent). Tendenz steigend.

Die Prognose für Teile Afrikas überschattet auch Indiens Erfolgslauf. Den Schätzungen zufolge war noch vor sieben Jahren jeder vierte Inder extrem arm. Sieben Jahre später schrumpfte der Anteil auf fünf Prozent. Oder anders: Jede Minute entkommen 43 Inder der extremen Armut.

AUF EINEN BLICK

Nachhaltigkeitsziele. Die Vereinten Nationen (UNO) wollen bis 2030 Hunger und extreme Armut auf der ganzen Welt beseitigen. Die UNO-Vollversammlung verabschiedete dazu im September 2015 die sogenannten Nachhaltigkeitsziele (SDGs), die die Millenniumsziele (MDGs) ablösen sollten. Der SDG-Katalog umfasst insgesamt 17 Ziele, die in den nächsten zwölf Jahren umgesetzt werden sollen. Dazu zählt unter anderem, dass allen Menschen Zugang zu sauberem Wasser, einer vernünftigen Toilette und einer kostenlosen Grundschulausbildung garantiert werden soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2018)

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