Ungarn: „Haben kein Drehbuch für Zweidrittelmehrheit“

Ungarns konservativer Spitzenpolitiker Tibor Navracsics über die Pläne seiner Partei nach der Wahl. Das Land könne man, so Navracsics, auch mit einer einfachen Mehrheit aus der Krise führen.

„Die Presse“: Haben die konservativen Jungdemokraten vor, die Demokratie in Ungarn zu demontieren und eine Diktatur zu installieren, wenn sie die Parlamentswahlen gewinnen? Die Sozialisten malen eine solche Gefahr ja an die Wand.

Tibor Navracsics: Unsere Partei wurde vor 22 Jahren mit dem Ziel gegründet, in Ungarn eine Demokratie zu errichten und das Land an den Westen zu binden. Noch bei jeder Wahl haben die Sozialisten versucht, uns zu verunglimpfen und in das antidemokratische Eck zu stellen. Allerdings zieht das heute nicht mehr.

Ihr Parteichef Orbán hat davon gesprochen, dass sich das Parteiensystem von einem dualen zu einem „zentralen Kraftfeld“ wandeln sollte. Was hat er damit gemeint?

Navracsics: Er hat damit gemeint, dass das jetzige System, mit den Sozialisten auf der einen, den Konservativen auf der anderen Seite, einem System weichen wird, in dem es nur noch eine große Kraft, die Jungdemokraten, geben wird, und daneben zwei kleinere politische Kräfte, die Sozialisten und die rechtsradikale Partei Jobbik. Die Konservativen werden künftig das Zentrum eines sich neu formierenden Systems sein.

Wie kann der seit Jahren tobende Grabenkampf zwischen Linken und Rechten beendet werden?

Navracsics: Die scharfe Polarisierung in Ungarn ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es bei den vergangenen zwei Parlamentswahlen gleichsam eine Pattstellung zwischen Sozialisten und Konservativen gegeben hat. Sowohl 2002 als auch 2006 lagen die beiden Parteien nicht einmal einen Prozentpunkt auseinander. Nach den jetzigen Parlamentswahlen wird es eindeutige Kräfteverhältnisse geben, das wird das politische Leben in Ungarn beruhigen.

Ihre Partei hat reale Chancen, eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Was wird sie mit einer solchen Machtfülle anfangen?

Navracsics: Ehrlich gesagt, haben wir gar kein Drehbuch für eine Zweidrittelmehrheit. Das Land lässt sich auch mit einer einfachen Mehrheit aus der Krise führen.

Welche Gesetze würde sie mit einer Zweidrittelmehrheit verabschieden?

Navracsics: Wir würden wahrscheinlich das Mediengesetz ändern und Institutionen wie die staatliche Aufsichtsbehörde der Finanzinstitutionen, den Rechnungshof, die Notenbank oder das Statistische Zentralamt in ihrer Unabhängigkeit stärken.

Würden die Konservativen Verfassungsänderungen vornehmen?

Navracsics: Nein. Was wir jedoch wollen, ist ein kleineres Parlament. Auch in den Lokalverwaltungen sollten weniger Gemeinderäte sitzen.

Können Sie sich eine parlamentarische Zusammenarbeit mit den Sozialisten oder der rechtsradikalen Partei Jobbik vorstellen?

Navracsics: Nein. Aus diesem Grund wollen wir bei den Wahlen einen deutlichen Sieg einfahren.

Jobbik könnte zweitstärkste Kraft im neuen Parlament werden. Wie kann dieser rechtsextremistischen Partei der Wind aus den Segeln genommen werden?

Navracsics: Durch gutes Regieren. Jobbik ist deshalb so stark, weil die linksliberalen Regierungen in den vergangenen acht Jahren so schlecht regiert haben. Die nächste Regierung muss sofort daran gehen, brennende Probleme wie die Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen und das Bildungswesen auf Vordermann zu bringen.

Und was ist mit der Roma-Frage?

Navracsics: Wir haben es hier nicht mit einem ethnischen, sondern mit einem bildungs- und beschäftigungspolitischen Problem zu tun. Ziel muss es sein, die Roma-Kinder auszubilden und den erwachsenen Roma Arbeit zu geben. Darunter verstehe ich auch gemeinnützige Arbeit.

Ihre Partei spricht davon, nach der Machtübernahme Sozialisten für ihre mutmaßlichen Missetaten zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Wie stellen Sie sich das vor?

Navracsics: Das haben die Sozialisten 2002 mit uns auch gemacht. Damals wurde eigens ein Staatssekretariat installiert, um die angeblichen Verbrechen der Regierung von Viktor Orbán aufzudecken. Letztlich konnte ihr aber nichts nachgewiesen werden. Wir wollen bloß alles Verdächtige im Dunstkreis der linksliberalen Regierungen untersuchen.

Was haben die linksliberalen Regierungen denn so schlecht gemacht?

Navracsics: Ihre größte Sünde war, dass sie den Anschein von Wohlstand in Ungarn durch Aufnahme von Krediten aufrechterhalten haben. Dadurch ist das Land in eine Schuldenfalle geraten. Angesichts der horrenden Schulden sahen sich die linksliberalen Regierungen dann dazu gezwungen, einen drastischen Sparkurs zu verfolgen, was dazu geführt hat, dass Ungarn heute ein ausgeblutetes Land ist.

Der jetzige Regierungschef Gordon Bajnai wird im Ausland für seine Wirtschaftspolitik aber sehr gelobt.

Navracsics: Er hat lediglich verhindert, dass das Land nicht kollabiert ist.

Werden die Auslandsungarn die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen?

Navracsics: Das ist unser Ziel. In Europa gibt es etliche Beispiele für Doppelstaatsbürgerschaften.

ZUR PERSON

Tibor Navracsics(*13.6.1966) ist der Fraktionschef des nationalkonservativen „Bundes junger Demokraten“ (Fidesz) im ungarischen Parlament und ein enger Vertrauter von Parteichef Viktor Orbán. Seine Partei geht als Favorit in die Wahl am Sonntag.

■Von der Ausbildung her ist er Rechtsanwalt und Politikwissenschaftler. Den Konservativen wird am Sonntag ein großer Wahlsieg vorausgesagt. [S. Somfai]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09. April 2010)

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