Entscheidungsschlacht um Idlib

A displaced Syrian boy from al-Ahmed family drinks water with the help of another family member in an olive grove at Atmeh town
A displaced Syrian boy from al-Ahmed family drinks water with the help of another family member in an olive grove at Atmeh town(c) REUTERS (Khalil Ashawi)
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Regimetruppen greifen letzte Rebellenbastion an und sollen laut USA erneut Giftgas eingesetzt haben. Islamisten versuchen Gegenschlag. Hunderttausende sind auf der Flucht.

Istanbul/Damaskus. Der Rettungswagen hält in einer Straße voller zerschossener Häuser, die Helfer springen aus dem Fahrzeug und ziehen einen Schwerverletzten aus einem zerstörten Hauseingang: Ein Video der Hilfsorganisation der „Weißhelme“ aus der nordwestsyrischen Kleinstadt Maarat al-Numan dokumentiert, welche Folgen die immer massiveren Luftangriffe im Nordwesten Syriens haben. Mehrere Städte in und um die Provinz Idlib lagen am Mittwoch unter schwerem Beschuss, mindestens ein Dutzend Menschen starben. Die US-Regierung sprach sogar vom Verdacht eines neuerlichen Giftgaseinsatzes. Die Entscheidungsschlacht um die letzte Rebellenhochburg in Syrien hat begonnen. „Unsere schlimmsten Befürchtungen werden wahr“, sagte UN-Sprecher David Swanson.

Seit Wochen greifen die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten in Idlib wieder stärker an. Sie begründen dies mit dem Kampf gegen Jihadisten, die immer wieder syrische Stellungen und russische Militäranlagen attackieren würden. Offiziell gilt immer noch die Waffenruhe vom September 2018, doch die Abmachung gilt nur noch auf dem Papier. Die Islamisten lehnen den Abzug aus einer damals vereinbarten Pufferzone ab, und der syrische Präsident Bashar al-Assad will Idlib und alle anderen Teile Syriens nach mehr als acht Jahren Krieg wieder unter seine Kontrolle bringen.

Bericht über neuen Chlorgasangriff

Laut der US-Regierung gibt es „Anzeichen“, dass Assads Streitkräfte erneut chemische Waffen eingesetzt haben. Zuletzt soll bei Gefechten am vergangenen Sonntag Chlorgas zum Einsatz gekommen sein. In den vergangenen Jahren hatten die Amerikaner nach Giftgaseinsätzen zwei Mal syrische Militäreinrichtungen bombardiert. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte erklärte allerdings, es gebe keine Hinweise auf einen neuen C-Waffeneinsatz. Russland wirft Rebellengruppen vor, selbst Giftgas freigesetzt zu haben, um US-Militärschläge gegen Assads Regierung zu provozieren.

Auch ohne Giftgas sind die Kämpfe brutal. Raketen, Fassbomben, Panzer und Sprengfallen kommen zum Einsatz. Die Rebellen schicken Selbstmordattentäter in Bomben-Fahrzeugen in die Stellungen ihrer Gegner. Auf Zivilisten achtet keine der Seiten. An der – derzeit geschlossenen – Grenze zur Türkei lagern mehrere hunderttausend Menschen, die vor den Gefechten geflohen sind. Dass sie in ihre Städte und Dörfer heimkehren können, wird immer unwahrscheinlicher. Die „Weißhelme“ berichten von gezielten Luftangriffen der Syrer und Russen auf Kornfelder: Mit dieser Taktik der verbrannten Erde soll die Nahrungsmittelversorgung der Menschen zerstört werden.

Auch Schulen und Krankenhäuser werden bombardiert. In Maraat al-Numan starben am Dienstagabend mindestens zwölf Zivilisten bei Luftangriffen, die nach dem abendlichen Fastenbrechen begannen – zu einer Zeit, wenn besonders viele Menschen auf den Straßen sind.

Vor neuer Fluchtwelle in die Türkei?

Ein weiterer Brennpunkt ist die Kleinstadt Kafr Nabuda in der Provinz Hama an der Grenze zu Idlib. Anfang des Monats hatten Regierungstruppen die Stadt eingenommen, mussten sich nach einem Gegenangriff der Rebellen aber wieder zurückziehen. Jetzt wird erneut um die Stadt gekämpft. Sollte Kafr Nabuda wieder an die Armee fallen, werde Syriens Militär weiter nach Norden marschieren, melden prosyrische Medien. Die Provinzhauptstadt Idlib liegt rund 60 Kilometer von Kafr Nabuda entfernt.

Den syrischen Regierungssoldaten und ihren russischen Verbündeten stellen sich nicht nur Kämpfer der islamistischen Miliz HTS entgegen, die weite Teile Idlibs beherrscht und Verbindungen zu al-Qaida hat. Auch Milizen, die von der Türkei unterstützt werden, werfen Kämpfer in die Schlacht. In den vergangenen Tagen erhielten ihre Verbände massive Verstärkung durch Einheiten mit gepanzerten Fahrzeugen. Die Türkei selbst hat Soldaten in zwölf Beobachtungsposten in Idlib stationiert, die bereits mehrmals Ziel von Attacken geworden sind. Einen Rückzug aus Idlib schloss der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar aber aus.

Für Ankara sind die neuen Kämpfe ein Alarmzeichen. Eine Großoffensive könnte mehrere Millionen neue Flüchtlinge in die Türkei treiben, die bereits mehr als drei Millionen Syrern Schutz gewährt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2019)

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