Türkei-Beitritt: Pro und Contra

Was spricht für einen Beitritt der Türkei zur EU, was dagegen? Ein kurzer Überblick.

Ausreichend Europäisch?


Contra: Anderer Kulturkreis. Der EU-Beitritt der Türkei würde aus der Einigung Europas ein eurasisches Großraumprojekt machen, dessen größter Mitgliedstaat einem anderen Kulturkreis angehört, sagen die Skeptiker. Jedes politische Gebilde müsse eine Identität entwickeln, um existenzfähig zu sein. Rechtsphilosoph Christian Stadler warnt: „Die kollektive Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist der Ursprung der europäischen Identität. In der Türkei fehlt sie.“

Pro: Heuchelei. Der ehemalige österreichische Spitzendiplomat Albert Rohan sieht dies anders: „Es darf keinen Krieg mehr geben, eine enge wirtschaftliche Verflechtung verhindert ihn.“ Um das zu wissen, müsse man nicht Deutscher oder Franzose sein. „Und natürlich geht es allen Beitrittsgegnern um die Religion. Wer das leugnet, heuchelt. In Wahrheit steht die Frage dahinter, ob die EU einen großen islamischen Staat aufnehmen kann. Bei einem kleineren Land wäre das kein Thema.“

Erhöhte Sicherheit?


Contra: Neue Konflikte für EU.
Durch einen Beitritt der Türkei würde die Europäische Union in die Konfliktherde des Nahen Ostens hineingezogen. Immerhin hat die Türkei eine direkte Grenze mit dem Irak und eine ungelöste Kurden-Problematik. Die EU hätte keine Möglichkeit, diese Konflikte zu koordinieren.

Pro: Vermittler im Nahen Osten. Der Autor der Türkei-Studie und Leiter des ESI-Instituts, Gerald Knaus, glaubt, dass diese Sorge zu spät kommt. „Ein provinzielles Argument. Schon heute stehen die EU-Truppen im Libanon, im Irak und in Afghanistan. Die Türkei kann im Nahen Osten einen vermittelnden Einfluss ausüben. Dies hat sie schon bei der Vermittlung zwischen Israel und Pakistan gezeigt.“ Für Albert Rohan würde eine größere EU kein Problem bedeuten: „Größe ist keine Bedrohung, die EU würde dadurch an Bedeutung gewinnen.“

Brücke zum Islam?


Contra: Vorposten des Westens.
Die islamische Welt sieht die Türkei nicht als Verbündeten, sondern als den bedrohlichen Vorposten westlicher Interessen und Kultur. Damit kann sie auch keine „Brückenfunktion“ ausüben, wie sich US-Präsident George W. Bush das wünscht. Erich Hochleitner, Leiter des „Österreichischen Instituts für Europäische Sicherheitspolitik“, meint: „Die Türkei ist Islam-untypisch, wie auch ihre enge Zusammenarbeit mit Israel zeigt. Sie muss selbst erst zu ihrer Identität finden.“

Pro: Heute offen muslimisch. Studienautor Gerald Knaus hält diese Ansicht für überholt. „Nur die alte, kemalistische Türkei wurde in der islamischen Welt als trojanisches Pferd der USA gesehen. Heute ist die Türkei zugleich offener muslimisch und offener zur EU – eine Demokratie, die auch ohne Ölreichtum wirtschaftlich schnell wächst.“

Teil der EU-Rechtstradition?


Contra: Keine gemeinsame Sprache. Die Europäische Union hat Standards auf dem Gebiet der Grundrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zu wahren. Rechtsphilosoph Stadler: „Mit Osteuropa gibt es eine gemeinsame Rechtstradition: das Bürgerliche Gesetzbuch in den Staaten der Donaumonarchie, das Magdeburger Stadtrecht in der Ukraine und in Russland. Mit der Türkei hingegen spricht man nicht dieselbe Sprache.“

Pro: Kein Problem für die Briten. Studienautor Gerald Knaus findet hingegen, dass sich im Rahmen der EU unterschiedliche Rechtssysteme nicht zum ersten Mal einander annähern würden. „Auch Großbritannien und Irland haben eine andere Rechtstradition als der Rest der EU. Die Türkei hat schon in den 20er-Jahren das Zivilrecht aus der Schweiz übernommen, das Handelsrecht aus Frankreich, das Strafrecht aus Italien.“

Genügend industrialisiert?


Contra: Teure Landwirtschaft.
Der Beitritt der Türkei wäre für die EU wirtschaftlich nicht verkraftbar. Zum Zeitpunkt der Aufnahme hätte die Türkei in der EU einen prognostizierten Bevölkerungsanteil von 15 Prozent, jedoch nur einen Beitrag zur Wirtschaftsleistung von knapp drei Prozent. Im Agrarbereich müssten mehrere Generationen jährliche Nettotransfers von 20 bis 27 Milliarden Euro zahlen – ein Drittel des dafür vorgesehenen Budgets.

Pro: Gegenmittel Agrarreform. „Das war dasselbe Argument gegen den Beitritt der neuen Mitgliedsländer aus dem Osten Europas“, kontert Studienautor Gerald Knaus. „Jetzt ist man erstaunt, wie wettbewerbsfähig die jungen EU-Staaten in nur kurzer Zeit geworden sind.“ Albert Rohan hält die Argumentation mit den hohen Agrarsubventionen insgesamt für überholt. „Die Förderungen von heute wird es, in Fortführung der Fischler-Reformen, schon in fünf Jahren nicht mehr geben.“

EU noch aufnahmefähig?


Contra: Tödlicher Quantensprung. Bereits im Jahr 2020 wäre die Türkei mit 86 Millionen Menschen der größte Mitgliedstaat der Europäischen Union. Österreichs ehemaliger EU-Botschafter Manfred Scheich hat keine Illusionen: „Die EU ist ein multinationales Gebilde und braucht den Konsens aller Mitglieder. Mit 27 ist sie schon überfordert. Der Beitritt der Türkei wäre ein Quantensprung, den würde die EU nicht überleben.“

Pro: Dehnbare Strukturen. Studienautor Gerald Knaus glaubt auch bei diesem Punkt, dass die Gegner eines türkischen EU-Beitritts zu schwarz malen. „Dasselbe Argument, dass die EU mit 27 Mitgliedern nicht mehr funktionieren kann, wurde auch bei den vergangenen großen Erweiterungsrunden vorgebracht. Aber ganz offensichtlich kann sich die EU weiterhin einigen – und die Entscheidungen brauchen heute auch nicht länger als vor fünf Jahren.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2008)

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