„Frankreich will keinen Rückbau der EU“

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BELGIUM EU GENERAL AFFAIRS COUNCIL(c) APA/EPA/OLIVIER HOSLET (OLIVIER HOSLET)
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Frankreichs Europa-Staatssekretär, Harlem Désir, vergleicht die Reformen in seinem Land mit jenen von Gerhard Schröder, tritt für eine Alternative zum umstrittenen TTIP-Investorenschutz ein und zeigt Großbritannien die Grenzen auf.

Die Presse: Premierminister Manuel Valls hat kürzlich in Berlin versichert, dass sich Frankreich bemühe, sein Defizitproblem in den Griff zu bekommen. Warum tut sich Ihr Land so schwer, den Staatshaushalt zu konsolidieren?

Harlem Désir: Wie Valls erklärt hat, haben wir ein großes Reformprogramm implementiert. Wir wollen keine Änderungen des Stabilitätspakts, sondern wir wollen die Flexibilität dieses Pakts nutzen. Wir wollen unsere Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und die Staatsausgaben senken. Das sind einige Reformen, die beispielsweise Deutschland bereits vor über zehn Jahren angegangen ist.

Sie meinen zu Zeiten der Schröder-Regierung?

Ja, obwohl jedes Land natürlich andere Reformkonzepte braucht. Wir müssen die Steuern für Unternehmen senken, die Lohnnebenkosten senken. Insgesamt geht es da um eine Reduzierung von 40 Milliarden Euro. Das kann nur schrittweise geschehen. Es geht um Hilfe für die Schaffung von neuer Beschäftigung und um eine Erleichterung für Investitionen. Um das zu finanzieren, müssen wir die Staatsausgaben um 50 Milliarden Euro bis 2017 senken. Schon 2015 werden wir die Ausgaben um 21 Milliarden reduzieren. Eine Verwaltungsreform soll außerdem die Arbeit der Unternehmen erleichtern. Das Problem ist: Als Bundeskanzler Schröder einst in Deutschland seine Reformen umgesetzt hat, gab es rundum ausreichend Wachstum. Das haben wir heute nicht. Wir riskieren derzeit eine Deflation und eine lange Stagnation in der Eurozone. Das dürfen wir aber nicht zulassen. Deshalb wird es auch beim nächsten EU-Gipfel um eine Investitionsinitiative in der Höhe von 300 Milliarden Euro gehen.

Die zentrale Frage ist doch, wie können Arbeitsplätze geschaffen, die Wirtschaft stimuliert werden, ohne die Budgets weiter zu belasten?

Jobs müssen im Privatsektor geschaffen werden – speziell bei Klein- und Mittelbetrieben. Wir müssen diesen Unternehmen eine größere Spanne für Investitionen geben. Nur so können sie den Wettbewerb gewinnen, exportieren. In Frankreich haben wir eine starke Industrie. So wie in Deutschland, aber auch in Österreich müssen wir nun eine stärkere Grundlage für die Klein- und Mittelbetriebe schaffen.

Frankreich und Deutschland waren in der Vergangenheit der Motor für die EU und wohl auch der Wohlstandsmotor Europas. Ist das heute nicht mehr so?

Die Zusammenarbeit ist absolut wichtig. Wir arbeiten mit Deutschland in allen wichtigen Fragen zusammen: bei der Ukraine, bei Wirtschaftsfragen, bei der Bankenunion. Mittlerweile gibt es auch auf beiden Seiten des Rheins dieselbe Sicht zur Notwendigkeit von Investitionen in die Wirtschaft.

Und wie soll es zu diesen Investitionen kommen? Woher soll das Geld kommen?

Zuerst einmal werden wir vorhandene Möglichkeiten, etwa der Europäischen Investitionsbank (EIB), nutzen. Wir haben das Grundkapital für diese Bank bereits erhöht. Nun gibt es ein Darlehensvolumen von 60 Milliarden Euro. Mit einem Minimum an öffentlichen Garantien können hier zahlreiche Projekte finanziert werden. Wir müssen auch versuchen, dass die hohe Sparrate, die es in Europa gibt, besser für die Finanzierung der Realwirtschaft genutzt wird. Wir brauchen eine länderübergreifende Initiative für Wachstum.

Wird das Freihandelsabkommen mit den USA für mehr Wachstum sorgen?

Für europäische Firmen wird dadurch der Zugang zum US-Markt erleichtert. Es wird eine Harmonisierung bei technischen Standards geben. Worauf wir aber bei diesen Verhandlungen achten müssen, ist die notwendige Transparenz. Die EU-Kommission muss hier offen mit den Mitgliedstaaten, mit den Parlamenten, der Zivilgesellschaft kommunizieren. Die EU muss aber auch die Glaubwürdigkeit bei ihren eigenen Standards erhalten – etwa bei der Gentechnik. Wir müssen die Bedeutung der kulturellen Vielfalt, aber auch jene spezieller Wirtschaftssektoren wie der Rüstungsindustrie bewahren.

Wie stehen Sie zum Investorenschutz mit den vorgesehenen außergerichtlichen Schiedsverfahren?

Bei großen Handelsübereinkommen wie diesem muss ein solches Schiedsgerichtsverfahren ein öffentliches sein. Im Rahmen der WTO gibt es bereits die Möglichkeit, dass Unternehmen vertreten durch ihren Staat gegen einzelne Regeln eines anderen Staates ein Verfahren anstrengen. Hier versucht eine staatliche Institution mit einer anderen staatlichen Institution eine Lösung zu finden. Ähnlich sollte das auch bei TTIP, dem Freihandelsabkommen mit den USA, geregelt werden. Auf gleicher Ebene, nicht durch ein privates Schiedsgericht. Denn es ist nicht akzeptabel, dass ein privates Rechtsinstrument das öffentliche Rechtssystem aushebeln kann.

Großbritannien könnte die EU bald verlassen, wenn sich tatsächlich die Mehrheit bei einer Volksabstimmung für den Austritt entscheidet. Was wäre die Konsequenz?

Jetzt weiß noch niemand, ob und wann das Referendum überhaupt kommt. Wir brauchen in Europa einen Zusammenhalt, um die globalen Herausforderungen zu bestehen. Ich glaube nicht, dass Europa irgendetwas gewinnt, wenn es sich spaltet. Großbritannien hat seinen Platz in der Europäischen Union und sollte bleiben. Wir könnten mit London über eine Weiterentwicklung der EU reden. Aber Frankreich will hier nicht zurück. Die EU sollte sich natürlich auf wichtige Hauptfragen konzentrieren und sich nicht in jedes Detail, in der Gesellschaft, in jedem Land, einmischen. Aber wir wollen auch keinen Rückbau der EU. Großbritannien kann seine Opt-outs haben, es darf aber nicht jene stoppen, die die EU weiterentwickeln wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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