Ergebnisse. In der EU-Volksabstimmung zeigte sich Großbritannien als zutiefst gespaltenes Land.
London. Wenig eint die britischen Landesteile mehr als die traditionelle Klage über die Vormachtstellung Londons. In der britischen Hauptstadt sind nicht nur politische und wirtschaftliche Macht konzentriert, sondern leben mit mehr als 8,5 Millionen Menschen auch über 13 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes. Das EU-Referendum von Donnerstag zeigte aber, dass selbst das mächtige London nicht immer bekommt, was es will: Während in der Hauptstadt die EU-Befürworter mit 60 zu 40 voran lagen, stimmte das Land insgesamt mit 51,9 zu 48,1 Prozent gegen die Mitgliedschaft in der Union.
Von den 33 Wahlbezirken Londons hatten die EU-Gegner in fünf die Nase vorn. Dabei handelt es sich um verarmte Arbeiterbezirke im Osten der Stadt wie Dagenham, Barking oder Havering. Aufgrund des günstigeren Wohnraums haben sie in den vergangenen Jahren besonders starke Zuwanderung angezogen. Die stärkste Zustimmung für die EU verzeichneten hingegen vom wohlhabenden Mittelstand geprägte Bezirke wie Camden oder Islington und besonders gemischte Bezirke wie Lambeth (Rekordhalter mit 78,6Prozent Zustimmung) oder Hackney. Mit rund 70 Prozent lag die Wahlbeteiligung in London um zwei Prozentpunkte unter dem Landesdurchschnitt.
Deutlich hinter Erwartungen
Neben der Hauptstadt stimmte auch Schottland am Donnerstag für den Verbleib in der EU. 62 Prozent erreichten die Anhänger der Union nördlich des Hadrianswalls und erzielten zudem in allen 32 schottischen Wahlkreisen die Mehrheit. Dennoch war Schottland im Zuge der Auszählung das erste Signal an das Pro-EU-Lager, dass etwas schiefgegangen war: Mit nur 67 Prozent blieb die Wahlbeteiligung deutlich hinter den Erwartungen. Noch knapper für die EU sprach sich Nordirland mit fast 56 Prozent für den Verbleib aus. Die Anhänger der Union lagen nur in elf der 18 Wahlkreise voran. In der Provinzhauptstadt Belfast stimmten die Wahlkreise Nord, Ost und Süd für den Verbleib, während Belfast East, einer der ärmsten Bezirke der Provinz, für den Ausstieg votierte.
Die Entscheidung fiel aber in den Kerngebieten Englands, wo mit 73 Prozent die Wahlbeteiligung leicht über dem Landesdurchschnitt lag. Wahlforscher hatten ein starkes Abschneiden des Brexit-Lagers im Süden des Landes und in den Midlands (Rekordhalter war Boston mit 75,6 Prozent für den Ausstieg) erwartet. Als Überraschung kam aber das enorm starke Abschneiden der EU-Gegner im Norden des Landes: In den Wahlkreisen North East, North West, West Midlands, Yorkshire and Humberside und East Anglia erreichten sie eine satte Mehrheit von bis zu knapp 60 Prozent. Auch in Wales gewannen die EU-Gegner mit 52,5 Prozent.
Das sind (wie einst Schottland) traditionelle Kerngebiete der Labour Party, die ihre Wähler entweder nicht mobilisieren konnte oder an die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (UKIP) abgab. „Labour hat jene verloren, die sich zurückgelassen fühlen, die Angst um ihren Job haben, die weniger liberal sind und die meinen, dass ihnen die Partei längst nicht mehr zuhört“, sagt Michael Kenny von der Queen Mary University of London.
Eine demografische Aufschlüsselung der Wähler zeigt zudem, dass junge Schichten für den Verbleib stimmten. In der Altersgruppe 18–24 Jahre war die Zustimmung zur EU nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts YouGov mit 75 Prozent am höchsten, sie sank sukzessive auf 56 Prozent unter den 25- bis 49-Jährigen, 44 Prozent unter der Gruppe 50–64 und schließlich 39 Prozent für 65 und mehr Jahre. Nach Bildung gegliedert verzeichneten Gegenden mit besonders hohem Bildungsgrad, wie die Universitätsstädte Oxford, Cambridge oder Bristol, besonders starke Zustimmung zur EU, während in Orten mit niedrigerem Ausbildungsniveau, wie etwa Boston, Castle Point und Thurrock, das Brexit-Lager reüssierte.
In weiten Teilen Englands war das Stimmverhalten im Referendum am Donnerstag fast deckungsgleich mit den Ergebnissen von UKIP bei der Parlamentswahl vor einem Jahr. Damals konnte die Partei trotz fast vier Millionen Stimmen aufgrund des Mehrheitswahlrechts nur einen Parlamentssitz gewinnen: Der Historiker Robert Saunders sprach von „tief sitzender Unzufriedenheit mit dem bestehenden System“.
Das EU-Lager hat den Fehler gemacht anzunehmen, dass diese Entfremdung der Wähler im Wesentlichen wirtschaftliche Gründe hat. Daher hämmerte man ihnen ein, dass ein EU-Austritt ökonomisch katastrophale Konsequenzen haben werde. Doch das Lager übersah, dass es neben der Sorge um das wirtschaftliche Wohlergehen in der britischen Gesellschaft auch eine tiefe Entfremdung mit der politischen Führung gibt. Das Brexit-Lager spielte geschickt auf dieser „Ihr da oben/Wir da unten“-Stimmung.
Das von der Stahlkrise gebeutelte Sheffield stimmte ebenso für den Ausstieg wie das dank der japanischen Autoindustrie blühende Sunderland. Selbst Warnungen vor negativen Auswirkungen eines Brexit auf ausländische Investoren verhallten offenbar wirkungslos.
Dafür, dass der Brexit teuer wird, gab es schon gestern erste Anzeichen. Allein die Kursverluste des Pfund werden Importe teurer machen, und Großbritannien leistet sich aktuell mit einem Minus von 70 Milliarden Pfund das größte Handelsbilanzdefizit seiner Geschichte. Dennoch meint die Ökonomin Brigitte Granville: „Die Entscheidung war eine politische, nicht eine ökonomische.“
Petition für neue Abstimmung
Das EU-Votum zeigt eine tief gespaltene britische Gesellschaft. Sie geht über die Grenzen der vier Landesteile hinweg. Der walisische Arbeiter hat mit dem englischen Arbeiter mehr gemeinsam als mit dem walisischen Studenten, der wiederum in seinen Ansichten und seinem Stimmverhalten mit seinen schottischen oder englischen Kommilitonen Übereinstimmung erzielt. Das Ergebnis der Abstimmung ist eine Abrechnung mit der Gegenwart und ein Ausdruck der Haltung zur Zukunft und darüber, ob sie vorwiegend hoffnungs- oder sorgenvoll gesehen wird.
Der Politologe Tim Bale warnt angesichts des Ergebnisses vor einer Vertiefung dieser Spaltung. „Auch wenn die Daten eine gespaltene Nation zeigen, sieht sich die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht in einem fundamentalen Widerspruch zu ihren Mitbürgern.“ Angesichts der scharfen Auseinandersetzung rufen viele zu einem „Heilungsprozess“ auf. Personen mit der entsprechenden Autorität sind freilich nicht zu erkennen.
Für die EU-Mitgliedschaft ist es nun zu spät. Wobei manche offenbar bereits umdenken: Eine Onlinepetition für ein neues EU-Referendum verzeichnete so starken Zuspruch, dass die Website zusammenbrach.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2016)