Europaparlament: Die Zeichen stehen auf Polarisierung

Im vierten Wahlgang wurde Antonio Tajani am späten Dienstagabend zum neuen Präsidenten des EU-Parlaments gewählt.
Im vierten Wahlgang wurde Antonio Tajani am späten Dienstagabend zum neuen Präsidenten des EU-Parlaments gewählt.(c) APA/AFP/FREDERICK FLORIN (FREDERICK FLORIN)
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Der neu gewählte Präsident, der Italiener Antonio Tajani, will als Manager im Hintergrund agieren – und steht damit im Gegensatz zu seinem Vorgänger Martin Schulz.

Straßburg. „Wir brauchen einen Präsidenten, keinen Premierminister“ – bereits vor der erfolgreich geschlagenen Wahl machte der neue Präsident des Europaparlaments, Antonio Tajani, klar, dass er seine Rolle anders anlegen will als sein Vorgänger Martin Schulz: Der italienische Christdemokrat will als Manager des Hohen Hauses im Hintergrund bleiben und kein eigenes politisches Programm verfolgen – „denn mein Programm ist das des EU-Parlaments“.

Die Zeiten, in denen der Parlamentspräsident mit eigenen Ideen auf die europapolitische Bühne drängte, sind mit der Wahl Tajanis definitiv vorbei. Und das liegt auch an den Unterschieden zwischen ihm und seinem Vorgänger: Während der deutsche Sozialdemokrat stets ein Kämpfer war, der im Laufe seines Berufslebens den Alkoholismus besiegt und den Sprung vom Buchhändler zum politischen Erstligisten geschafft hatte, blieb Tajani lange Zeit in der zweiten Reihe – zunächst als Journalist im Medienimperium von Silvio Berlusconi, später als Berlusconis Pressesprecher und Europaabgeordneter der Berlusconi-Partei Forza Italia. Erst als Italiens Vertreter in der EU-Kommission trat Tajani erstmals ins Rampenlicht.

Besonders große Fußstapfen

An der Spitze des Europaparlaments tritt er nun in besonders große Fußstapfen – die er nach eigenen Worten gar nicht füllen will. Dass die Rückkehr von Schulz in die deutsche Innenpolitik wie das Ende einer Ära anmutet, hat aber auch damit zu tun, dass der politische Wind heute aus einer anderen Richtung weht. Die multiplen Krisen, mit denen sich die EU konfrontiert sieht – die Stichwörter dazu lauten Flüchtlinge, Brexit, Donald Trump –, haben zu einer Aufwertung des Rats, des Gremiums der EU-Mitgliedstaaten, auf Kosten des Abgeordnetenhauses geführt. Ein eindeutiges Symptom für diese Entwicklung war die letztjährige Entscheidung der Brüsseler Behörde, die EU-Mitglieder direkt in die Ratifizierung von Freihandelsabkommen einzubinden, anstatt die Verträge auf rein europäischer Ebene zu fixieren.

Dass die nationalen Regierungen bei den bevorstehenden EU-Austrittsverhandlungen mit Großbritannien trotz des Mitspracherechts des Europaparlaments das letzte Wort haben werden, ist auch relativ unbestritten. Und was die politische Gewichtung an der Spitze der europäischen Institutionen anbelangt, werden sich die Staats- und Regierungschefs aller Voraussicht nach auch nicht ins Handwerk pfuschen lassen: Die Spekulationen darüber, dass der christdemokratische Ratspräsident Donald Tusk im Frühjahr seinen Posten einem Sozialdemokraten überlassen muss, nur weil jetzt ein anderer Christdemokrat dem Europaparlament vorsteht, sind zuletzt verstummt.

Mit Tajanis Ankündigung, ein Präsident im Hintergrund sein zu wollen, rücken nun die Chefs der Parlamentsfraktionen als politische „Macher“ in den Vordergrund. Stabile sozialdemokratisch-christlich-soziale Mehrheiten werden sich künftig nicht so leicht organisieren lassen – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass Manfred Weber (CSU), der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), bereits von einer „bürgerlichen Mehrheit“spricht, bestehend aus der EVP, der liberalen ALDE-Fraktion und der europakritischen Gruppe der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR), die von den britischen Tories angeführt wird und der unter anderem die in Warschau regierenden Nationalpopulisten angehören.

Gemeinsam verfügen die drei Gruppierungen über 359 von 751 Mandaten. Um von einer Mehrheit sprechen zu können, fehlen also 17 Stimmen – und selbst diese 359 Voten sind nicht garantiert, denn wie Weber selbst eingestanden hat, verläuft zwischen EVP/ALDE und ECR eine tiefe Kluft, was die Zukunft der EU anbelangt: Volkspartei und Liberale wollen sie ausbauen, die Tories am liebsten abwickeln.

Neuer Verlauf der Fronten

Im Straßburger Plenum deuten die Zeichen also auf Polarisierung – und auch das ist ein Symptom der Zeit, denn in vielen Mitgliedstaaten der Union wird die politische Mitte von Anti-Establishment-Parteien gerade sturmreif geschossen. Bis dato galt das Europaparlament als in Stein gemeißeltes Symbol einer auf Konsens bedachten Politik der Mitte. Dass die Fronten nun anders verlaufen, muss nach Jahren einer informellen „Großen Koalition“keine schlechte Sache sein. Doch die Europapolitik wird damit ein Stück unberechenbarer.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2017)

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