Wird 2017 Flüchtlingsrekordjahr für Südeuropa?

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In Rom vereinbarten Vertreter aus der EU und Nordafrika enge Zusammenarbeit. In Griechenland strandeten indes so viele Flüchtlinge wie seit Monaten nicht mehr.

Rom/Wien. Immer schlechtere Boote, immer mehr Tote, immer mehr Abschiebungen. All das kann Menschen offenbar nicht davon abhalten, die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer nach Europa auf sich zu nehmen. 3315 Menschen wurden allein am Sonntag in 25 unterschiedlichen Rettungsaktionen aus dem Meer gerettet und nach Italien gebracht. Bei einem Einsatz der libyschen Marine seien am Montagmorgen außerdem 205 Menschen gerettet worden, teilte ein Marinesprecher mit. Aus Italien kommen auch erste Anzeichen, dass mit der wärmeren Jahreszeit heuer der Flüchtlingsstrom nach Europa erneut Rekordhöhen erreichen könnte: Allein seit Jänner – also in den sonst eher „ruhigeren“ Wintermonaten – sind doppelt so viele Flüchtlinge an den Küsten des Mittelmeerlandes gestrandet wie im selben Zeitraum 2016.

Gutes Wetter oder türkische „Rache“?

Rom ergriff also selbst die Initiative und trommelte die von der Zuwanderung über die Mittelmeerroute am stärksten betroffenen Staaten zusammen: So saßen am Montag um den runden Tisch in Rom nicht nur die Innenminister aus Italien, Frankreich, Österreich, Malta, Slowenien und der Schweiz, sondern auch Vertreter aus Algerien, Tunesien und Libyen. Es war das erste Mal, dass die Regierungsvertreter in dieser Konstellation zur Beratung der Flüchtlingskrise zusammenkamen.

Doch während sich die internationale Aufmerksamkeit gestern auf das westliche Mittelmeer konzentrierte, deutet einiges darauf hin, dass auch die östliche Route über die Ägäis nach Europa nicht so „dicht“ ist wie angenommen. Trotz des EU-Deals mit der Türkei gelangten am Wochenende 362 Menschen von der türkischen Küste auf griechische Inseln in der Ostägäis – eine ungewöhnlich hohe Zahl. Zum Vergleich: In den ersten zwei Märzwochen hatten im Schnitt täglich nur etwa 35 Personen illegal nach Griechenland übergesetzt. Bis Ende Februar waren es etwas mehr als 1000. Aufgrund des Abkommens mit der Türkei, das seit einem Jahr in Kraft ist und unter anderem strenge Grenzkontrollen vorsieht, fiel die Zahl der Ankünfte in Griechenland um fast 80 Prozent im Vergleich zum Rekordjahr 2015: Damals flüchteten viele Menschen aus Nahost nach Nordeuropa.

Offen ist, ob politische Gründe hinter den unerwartet hohen Flüchtlingszahlen vom Wochenende stecken: Türkische Spitzenpolitiker hatten in den vergangenen Tagen mit der Aufkündigung des EU-Flüchtlingsdeals gedroht, da einige EU-Länder Wahlkampfauftritte türkischer Politiker zum Verfassungsreferendum in der Türkei abgesagt beziehungsweise verboten haben.

Die griechische Küstenwache jedenfalls führte den Anstieg der Flüchtlinge auf das gute Wetter zurück. Für die UN-Agentur Internationale Organisation für Migration (IOM) ist es zu früh, um Schlüsse zu ziehen. „Wir müssen die Lage genau beobachten, um festzustellen, ob es sich um einen Trend handelt“, sagte eine Sprecherin zur „Presse“.

Der Deal der EU mit der Türkei soll nach Vorstellungen der Regierung in Rom auch als Inspiration für eine EU-Zusammenarbeit mit Libyen dienen: Italien hat bereits ein Abkommen mit der international anerkannten Regierung in Tripolis abgeschlossen. Unter anderem soll die libysche Küstenwache künftig Schlepperboote noch in libyschen Gewässern stoppen – und dafür entsprechend ausgerüstet und finanziert werden. Denn aus dem Bürgerkriegsland starten die meisten Schlepperboote nach Italien. Premier Serraj nützte das gestrige Treffen denn auch, um hohe Ansprüche zu stellen: Er forderte laut italienischen Medien 800 Mio. Euro für seine Küstenwache. Brüssel hatte ihm 200 Mio. Euro zur Verfügung gestellt.

Mit Libyen wollten am Montag in Rom alle kooperieren: Laut dem deutschen Innenminister, Thomas de Maizière (CDU), muss das Hauptaugenmerk darin liegen, „das Geschäftsmodell der Schlepper zunichtezumachen“. Daran hätten nicht nur die Europäer, sondern auch die nordafrikanischen Staaten großes Interesse. „Die libysche Regierung hat kein Interesse daran, dass eine Spur der Kriminalität durch ihr Land gezogen wird, dass die Strände von Schleppern beherrscht werden, dass dort menschenunwürdige Zustände in den Lagern sind.“ Und auch sein Kollege aus Österreich, Wolfgang Sobotka, plädiert für einen Dialog mit Nordafrika: „Nur wenn es gelingt, den Schleppernetzwerken die Grundlage für ihr menschenverachtendes Geschäft zu entziehen, können wir die illegale Einreise über das Mittelmeer bekämpfen.“

Mangelnde EU-Solidarität

Gastgeber Marco Minniti, der italienische Innenminister, hofft auf weitere Treffen in dieser Zusammenstellung. Eine ständige Kontaktgruppe zwischen den Ländern soll mit dem Treffen in Rom entstanden sein, um das Problem der Zuwanderung gemeinsam in den Griff zu bekommen. Alle Gipfelteilnehmer begrüßten die Initiative.

Minniti beklagte aber auch fehlende Solidarität aus Europa: Von den 20.000 Flüchtlingen, die bis dato eigentlich aus Italien in andere EU-Staaten hätten umgesiedelt werden sollen, haben bislang nur 4170 einen anderen Aufnahmestaat gefunden. Die Folge: Mehr als 173.805 Menschen haben in Italien Asyl beantragt und verteilen sich auf die Aufnahmeeinrichtungen im ganzen Land. „Jede aufnehmende Gesellschaft hat eine Grenze, was die Integration angeht“, so Minniti.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2017)

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