EU-Ratsvorsitz

Estland, das digitale Laborexperiment an Europas Spitze

Estlands EU-Botschafterin Kaja Tael.
Estlands EU-Botschafterin Kaja Tael.(c) Estnische Vertretung bei der EU
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Die Esten wollen den Europäern den Nutzen der Digitalisierung näherbringen, sagt EU-Botschafterin Kaja Tael im „Presse“-Gespräch.

Brüssel. Wer John Stuart Mills „Über die Freiheit“, Henry Kissingers „Diplomatie“ und Eric Hobsbawms „Zeitalter der Extreme“ aus dem Englischen ins Estnische übersetzt hat, kann dem täglichen Klein-Klein des Brüsseler Ringens um Richtlinien, Verordnungen und nationalstaatliche Empfindlichkeiten eine historische Perspektive über den eigentlichen Zweck des europäischen Einigungswerks entgegenhalten. Kaja Tael, die ständige Vertreterin Estlands bei der Union in Brüssel, erinnert im Gespräch mit der „Presse“ daran, worum es beim gegenwärtig größten wirtschaftspolitischen Spaltpilz zwischen Ost- und Westeuropa, nämlich der Entsendung von Arbeitnehmern in andere Mitgliedstaaten, letztlich geht: „Beide Seiten müssen versuchen, sich in die Lage des jeweils anderen zu versetzen und dieses Dossier als Frage der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu sehen. Ziel der Europäischen Union ist die Konvergenz zwischen Ost- und Westeuropa. Wir haben da einigen Fortschritt gemacht, aber es gibt noch viel zu tun.“

Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem reichen Westen und dem armen, postkommunistischen Osten: Das wird, unter dem Leitmotiv „Einheit durch Gleichgewicht“, auch die sechsmonatige Ratspräsidentschaft Estlands prägen, die am 1. Juli beginnt. Die Esten wollen die Offenheit und Erneuerungskraft von Europas Wirtschaft fördern, die Sicherheit stärken, allen Unionsbürgern die volle Wahrung ihrer Rechte sichern und vor allem die Digitalisierung des Kontinents vorantreiben.

Die digitalen Aspekte des täglichen Lebens seien „das allumfassende Thema der estnischen Präsidentschaft“, sagt Tael. Konkrete Ergebnisse erhofft sie sich bei der Regulierung von großen Datenbanken und ihrer Interoperabilität, „die uns helfen können, ein sichereres Europa zu schaffen, vor allem hinsichtlich des Grenzschutzes.“ Das ist ein Problem, mit dem sich die Innen- und Justizminister erst vorige Woche in Luxemburg befassen mussten, denn zahlreiche Datenbanken, die zur Erfassung von Einreisenden, Asylwerbern und Straftätern dienen, haben keine reibungsfreien Schnittstellen.

Brexit wohl so schlimm wie befürchtet

„Wir betreiben Estland seit vielen Jahren als digitales Laborexperiment, und wir teilen diese Erfahrungen gern mit dem Rest Europas“, fügte Tael hinzu. Einen Widerspruch zwischen Datenschutz und digitalem Bürgertum gebe es nicht. „Datenschutz ist die Grundlage für jede Entwicklung im digitalen Bereich.“ Wer grundlos in persönlichen vertraulichen Daten anderer stöbert, riskiert in Estland strafrechtliche Verfolgung. Und vor allem hinterlässt er eine digitale Spur, die leicht zu entdecken sei, gibt Tael zu bedenken: „Vergleichen Sie das mit der Welt um uns: Können Sie sich vorstellen, wie viele Menschen in der Lage sind, Papierakten in einem Amtsgebäude über Sie einzusehen, ohne nur irgendeine Spur zu hinterlassen?“

Die Erfahrung eines totalitären Staates, der über seine Bürger zu wachen versucht, ist für die 56-jährige promovierte Sprachwissenschaftlerin sehr persönlich. „Ich bin nicht als Diplomatin ausgebildet, denn während meiner Studienzeit gab es diesen Karrierepfad für Esten nicht.“ Moskau habe ihnen nicht zugetraut, das Sowjetreich in der Welt zu vertreten. „Mit gutem Grund“, fügt Tael lächelnd hinzu. Was soll man lesen, wenn man Estland verstehen will? Einerseits den Nationalschriftsteller Jaan Kross mit seinen historischen Romanen; andererseits die junge estnischstämmige Finnin Sofi Oksanen mit ihren akribisch recherchierten Romanen über Kollaboration und Widerstand.

Frage an die frühere Botschafterin in London: Steht es um den Brexit so schlimm, wie man befürchten muss? „Ich weiß es nicht – aber ich fürchte ja. Ich bin ziemlich besorgt darüber, dass wir diese Verhandlungen in einem ziemlich kontroversiellen Klima beginnen.“ Aus ihrer Zeit in Berlin wiederum hat sie eines mitgenommen: „Deutschland ist möglicherweise das proeuropäischste Land der EU. Das Interesse Europas stand stets im Vordergrund.“ (GO)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2017)

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