Studie: Was Eliten und Normalbürger trennt

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Wer vom Status quo profitiert, ist zufriedener mit der aktuellen Lage in Europa. Doch selbst die Wissenseliten sind von einer Vertiefung der EU nicht zur Gänze überzeugt.

Wien. Spätestens seit die britischen Wähler vor einem Jahr gegen den Rat des gesamten Establishments für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union gestimmt haben, ist immer wieder von der wachsenden Kluft zwischen der Lebenswirklichkeit der Normalsterblichen und der Wissenseliten in Europa die Rede. Doch wie tief ist diese Kluft wirklich? Diese Frage stellte sich ein dreiköpfiges Forscherteam von der Londoner Ideenschmiede Chatham House – das Ergebnis ihrer Nachforschungen wurde am gestrigen Dienstag veröffentlicht. Fazit: Der Abstand ist messbar, substanziell – und nicht nur auf Großbritannien beschränkt.

In zehn EU-Mitgliedsstaaten – Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Griechenland, Ungarn, Belgien und Österreich – haben die Studienautoren insgesamt 10.195 „Durchschnittsbürger“ und 1823 „Eliten“ (also Politiker, Unternehmer, soziale Aktivisten und Medienvertreter) im Zeitraum Dezember 2016 bis Februar 2017 nach ihren Haltungen zu Europa und diversen tagespolitisch relevanten Themen befragt. Die Umfragegergebnisse wurden anschließend miteinander verglichen. Ihre Schlussfolgerung: Innerhalb der europäischen Bevölkerung gibt es mindestens drei Bruchstellen. Die erste weltanschauliche Front verläuft zwischen Eliten und Nichteliten, die zweite zwischen liberal und autoritär gesinnten Bürgern – und der dritte Graben teilt die Wissenseliten in zwei Gruppen, die unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft der EU haben.

Stolze Profiteure . . .

Was die erstgenannten Meinungsunterschiede anbelangt, werden die Differenzen unter anderem bei der Frage nach der persönlichen Zugehörigkeit zur Europäischen Union deutlich: Während 68 Prozent der befragten „Eliten“ sehr stolz bzw. einigermaßen stolz waren, EU-Bürger zu sein, lag der Anteil der stolzen Normalbürger bei 55 Prozent (siehe Grafik). Auch was die Frage der Vorteile einer EU-Mitgliedschaft anbelangt, war die Kluft relativ tief: nur 34 Prozent der Nichteliten gaben an, sie hätten von der Mitgliedschaft profitiert – bei den Wissenseliten (die zu den Gewinnern von Globalisierung und Automatisierung gezählt werden können) lag der Anteil der Zufriedenen bei 71 Prozent.

Auch bei der Frage nach dem Umgang mit der Flüchtlingskrise fallen die Antworten – je nach Zugehörigkeit – unterschiedlich aus: 63 Prozent der Eliten, aber nur 49 Prozent der Nichteliten halten eine verpflichtende Verteilung auf alle Mitgliedstaaten per Quote für den einzig gangbaren Weg. Insofern ist es nicht überraschend, dass die Normalbürger den Umgang mit der Flüchtlingskrise bzw. die Massenmigration nach Europa für das größte Versagen der EU halten, während die Wissenseliten vor allem die überbordende europäische Bürokratie für kritikwürdig halten.

. . . und unsichere Skeptiker

Front Nummer zwei, zwischen liberalen und autoritär gesinnten EU-Bürgern, manifestiert sich in den bereits erwähnten Themen. Befragte, die abseits der wirtschaftlich boomenden Metropolen leben und über ein niedriges Bildungsniveau verfügen (also klassische Wähler rechtspopulistischer Parteien), waren deutlich skeptischer, was die Vorteile der EU-Mitgliedschaft anbelangt, als besser gebildete Stadtbewohner. Deutliche Unterschiede zwischen den zwei Gruppen gibt es auch bei der Beurteilung des Islam und der Migration.

Die Chatham House-Studie zeigt allerdings auch, dass die europäischen Wissenseliten keineswegs so homogen sind, wie es den Anschein haben mag. Unterschiede gibt es beispielsweise bei Überlegungen zur Zukunft der EU – also der Frage, ob die europäischen Institutionen auf Kosten der Mitgliedstaaten mit weiteren Befugnissen ausgestattet werden sollen. Während sich 37 Prozent der Befragten für eine Aufwertung der EU aussprechen, wünschen sich 31 Prozent die Repatriierung von Kompetenzen an die EU-Mitglieder. Die Beibehaltung des (laut Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nicht zufriedenstellenden) Status quo wird demnach von 28 Prozent unterstützt – und der Wunsch nach den „Vereinigten Staaten von Europa“ von 47 Prozent abgelehnt und von 40 Prozent befürwortet.

AUF EINEN BLICK

Chatham House. Drei Forscher des britischen Thinktanks haben im Zeitraum Dezember 2016 bis Februar 2017 insgesamt 10.195 „Durchschnittsbürger“ und 1823 „Eliten“ nach ihrer Meinung zu Europa befragt. Die Studie wurde in zehn EU-Mitgliedsstaaten durchgeführt – darunter Österreich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2017)

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