Britische Wirtschaft rudert gegen den „Hard-Brexit“

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Während die Regierung erstmals Verständnis signalisiert, wird hinter den Kulissen massiv um Positionen gerungen. Unternehmensvertreter fordern nicht weniger als die Beibehaltung der Arbeitnehmermobilität.

London. Keine Interessenvertretung hat aus dem Ergebnis der Unterhauswahl in Großbritannien so viel Ermutigung abgeleitet wie die Wirtschaft des Landes. Nachdem Premierministerin Theresa May die Anliegen der Unternehmer seit ihrem Amtsantritt vor einem Jahr konsequent ignoriert hatte, „hört man jetzt wieder auf ökonomische Argumente“, sagt ein hoher Beamter in London. Ein Gipfel zwischen Regierung und Wirtschaft heute, Freitag, auf dem Landsitz Chevening House soll auch symbolisch diese Neuausrichtung der Politik demonstrieren.

Während May auf dem G20-Gipfel in Hamburg weilt, wird Brexit-Minister David Davis gemeinsam mit Wirtschaftsminister Greg Clark die Gespräche leiten. Zusammen mit Schatzkanzler Philip Hammond ist hier seit den Wahlen ein informelles Triumvirat in der Regierung entstanden, das den absolutistischen Positionen der Premierministerin („Brexit means Brexit“) entgegenwirken will. In einer Rede sicherte Hammond der Wirtschaft diese Woche zu: „Wir hören auf Ihre Sorgen und nehmen sie ernst.“

Die Wirtschaft drängt vor allem darauf, den EU-Austritt ohne große Brüche und Verwerfungen zu gestalten. In einem Positionspapier verlangen die fünf führenden Unternehmensverbände unter anderem die „Beibehaltung des zollfreien Warenaustausches, regulatorische Äquivalenz und gegenseitige Anerkennung von Standards sowie flexible Regelungen für die Arbeitnehmermobilität“. Als erstes Zeichen für den neuen Zugang der Regierung wurde diese Woche eine Erklärung gesehen, die ausdrücklich der Pharmaindustrie zusichert: „Wir sehen uns völlig verpflichtet, die enge Arbeitsbeziehung mit unseren EU-Partnern fortzusetzen.“

Der Wechsel der Tonlage kann nicht früh genug kommen, denn die Krisenanzeichen in Erwartung des Brexit mehren sich. Die britische Autoindustrie meldet diese Woche einen Einbruch der Investitionen, die bei Fortsetzung des aktuellen Trends in diesem Jahr auf ein Viertel des Rekordjahrs 2015 zurückzufallen drohen. Zugleich verzeichneten der dominante Dienstleistungssektor und das Baugewerbe ein verlangsamtes Wachstum, während die Zuversicht der Konsumenten angesichts von Reallohnverlusten eingebrochen ist.

Fluchtwelle aus dem Land

Bemerkbar machen sich die Folgen des Brexit-Votums auch bereits auf dem Arbeitsmarkt. Nicht nur fällt die Zahl der Einwanderer aus der EU, es wächst auch die Zahl jener, die das Land verlassen: 117.000 waren es allein im Vorjahr, nach offiziellen Angaben der höchste Wert seit 2009. Gesundheitsminister Jeremy Hunt wurde diese Woche mit einem Memo zitiert, in dem es heißt: „Ein harter Brexit bedeutet, dass die Menschen aus dem Land flüchten.“ Nicht zufällig drängt die Wirtschaft massiv auf eine rasche Klärung der Rechtsstellung der EU-Ausländer nach dem Austritt. Die Unternehmen ersparen sich durch billige und qualifizierte ausländische Arbeiter Milliarden an Kosten.

Die Angst der Briten, auf diese Art aus ihrer gesicherten Existenz verdrängt zu werden, war eine der Ursachen für den Brexit. Nun setzt sich aber die Erkenntnis durch, dass ein völliger Bruch mit der EU nicht weniger schmerzhaft sein wird. Schatzkanzler Hammond, der seit der Wahl politischen Aufwind hat, wirbt unermüdlich für „lange Übergangsfristen“. Von Brexit-Minister Davis heißt es nun, er sei von Mays dogmatischem Zugang „gelähmt“ worden, in Wirklichkeit sei er aber „viel pragmatischer“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2017)

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